Er schlief so gut wie jede Nacht bei mir im Bett, damit ich mich nicht alleine fühlte. Eigentlich war es ihm verboten, nach achtzehn Uhr das Zimmer zu betreten, dies ließ ihn jedoch vollkommen kalt.
Phiny war seither nur ein weiteres Mal aufgetaucht, da sie die Woche zuvor nach Spanien geflogen war.
Ich saß mit meinen Eltern im Garten des Krankenhauses, neben uns der verlassene Spielplatz. Es war wunderschön hergerichtet worden; viele Bäume, Gebüsche, Sitzgelegenheiten und was ich am meisten schätzte: unendlich viele Blumen. Die Tulpen und Rosen, welche ständig als Gute-Besserungs-Geschenke in meinem Zimmer lungerten, waren längst nicht so wunderschön und dufteten nicht so herrlich.
„Carly, möchtest du etwas essen?“, fragte meine Mutter.
„Nein, danke“
„Etwas trinken?“
„Nein“
Sie schnaufte.
„Hast du irgendwelche Wünsche? Vielleicht ein neues Computerspiel? Oder DVDs?“
„Nein, wirklich nicht, Mom, danke dir“
„Willst du einen neuen Roman?“
„Danke, Dad. Ich hab noch einen“
„Ein Eis?“
„Wenn ihr mir einen Wunsch erfüllen wollt, dann holt mir Harry Styles“, scherzte ich.
Meine Eltern sahen sich gegenseitig an, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte.
„Das war nicht ernst gemeint“, erklärte ich ihnen lächerlicherweise.
Zwei Tage darauf besuchte mich meine Mama wieder. Sie brachte mir selbstgemachte Suppe und meine Lieblingskekse, da ich mich des Öfteren über die Krankenhaus-Mahlzeiten beschwerte. Das Essen war nicht schlecht, ich war nur die Kochkünste meiner Mutter gewöhnt, denn sie war Köchin in einem der teuersten Restaurants der Gegend – und da konnten die Spitalköche nicht mithalten.
„Carly?“, fragte Mom nach einer Weile, in der sie mir dabei zugesehen hatte, wie ich mir einen Löffel nach dem anderen in den Mund stopfte.
„Hm?“
„Eigentlich sollte es eine Überraschung sein, aber ich muss es dir einfach sagen“
„Was denn?“
„Deine Schwester hat einen neuen Freund, sein Name ist-“ Ich ließ den Löffel in der Suppe verschwinden.
„Wer?“, fragte ich.
„Anthony“
„Nein, nein. Seit wann habe ich eine Schwester?“
Die Gesichtsfarbe meiner Mutter wurde blasser, als sie bemerkte, dass ich es ernst meinte. Ihre Augen weiteten sich und ihre schlaksigen Finger schlangen sich um meine.
„Alice, deine große Schwester“, flüsterte sie. Ich hatte noch nie in meinem Leben von ihr gehört. Oder vielleicht habe ich auch sie vergessen, nicht nur die anderen Dutzenden. Es hatte eine gewisse Zeit gebraucht, nachdem ich aus dem zweiwöchigen Koma aufgewacht war, bis ich die Namen meiner Familie und meiner Freunde wieder zusammen hatte. Bilder hatten mir dabei geholfen, sich an diejenigen zu erinnern. Wieso hatten sie dann nichts von einer Schwester erwähnt? Ich dachte, dass ein weiterer Familienteil, der mir dazu auch noch sehr nah stand, ziemlich wichtig sein würde.
„Du hast eine ältere Schwester, ihr Name ist Alice“ Die Stimme meiner Mutter zitterte ein klein wenig, weswegen ich ihre Hand zur Beruhigung drückte.
„Soweit war ich auch schon. Erzähl mir von ihr, vielleicht finde ich irgendwas in meinem Gedächtnis“
„Sie... sie hat ziemlich lange Haare, ursprünglich hellbraun, doch jetzt ist sie blond. Grüne Augen, genauso wie du. Ihre Nase ist winzig und auf ihren Lippen liegt immer ein freches Grinsen“ Ich lächelte meine Mutter an. Sie strahlte so sehr, als sie von ihr erzählte. „Alice ist genau zwei Jahre und eine Woche älter als du und wird in wenigen Wochen neunzehn“
„Das heißt ich hab ebenfalls in ein paar Wochen Geburtstag?“
„Genau“
„Ich werde 17?“
„Mhm. Und sie wird dich morgen besuchen kommen“
„Klingt cool. Erzähl mir etwas über ihren neuen Freund“
„Anthony“ Mom pustete Luft aus ihren Lungen und starrte in die Luft. „Er ist ein netter Kerl, zwei Meter groß. Es ist so schwer, sich die nicht einmal 1,60 Meter kleine Alice mit ihm vorzustellen, weißt du?“
Ich nickte und schmunzelte.
„Vielleicht sind die beiden ja auch nur ... wie sagt man heutzutage? ‚SuperbesteFreunde’ Aber man sieht die Herzen in seinen Augen, wie er sie ansieht. Alice hingegen liebt es, mit anderen Leuten zu spielen. Deswegen bin ich mir nicht so sicher, ob sie es ernst meint“
Meine Mutter lächelte mich an. Man sah ihrem schiefen und falschen Lächeln an, dass es ihr nicht gefiel, welche Einstellung meine Schwester gegenüber der Liebe hatte.
„Wieso hat sie mich nicht schon früher besucht?“, fragte ich ein wenig enttäuscht.
„Sie hatte viel zu tun, musste Prüfungen schreiben und arbeiten, nebenbei passt sie ständig auf die Nachbarstochter auf und feiert Partys. Sie überanstrengt sich ein wenig. Dein Unfall hat ihr ziemlich zu schaffen gemacht, deswegen verliert sie sich vollkommen in der Arbeit und versucht sich abzulenken“
In dieser Sekunde kam ein Bild zwischen die unendlichen Gedanken, die ich im Moment festhielt.
„Kann es sein, dass Alice gerne Essen von fremden Tellern klaut?“, lächelte ich.
„Ja, das ist richtig. Erinnerst du dich an sie?“
„Nur an einen Abend, an dem Papa gegrillt hat und sie mir Pommes gestohlen hat“
„Das macht sie immer“
Es war eine Art von Lachen und Weinen zugleich, was meine Mutter nun tat. Und ohne zu verstehen, wieso sie so reagierte, kopierte ich ihren verzogen Gesichtsausdruck und hoffte sie würde sich bald beruhigen.
Der nächste Tag verlief langsam, da sich meine Schwester erst um vier Uhr nachmittags blicken ließ und ich seit acht Uhr früh kerzengerade im Bett saß, darauf wartend, dass sich die Tür öffnete. Fünf Mal wurde ich enttäuscht. Zwei Mal von Rita, die mir neue Infusionen anschloss, einmal von der älteren Krankenschwester, dessen Namen ich mir nie merkte, welche mir Mittagessen brachte, ein weiteres Mal von meinem Arzt um mich abzuhören und das letzte Mal von meinem Papa. Es war schön ihn zu sehen, aber wenn man mit einer bestimmten Person rechnet und diese dann nicht und nicht aufkreuzt, ist man automatisch niedergeschlagen.
„Hey mein Liebling“
„Hallo Papa“
„Ich habe dir jemanden mitgebracht“ Vielleicht war es doch keine Enttäuschung ihn zu sehen. Ab diesem Augenblick schlug mein Herz um zehn Prozent schneller und die Aufregung durchfuhr meinen Körper vom Scheitel bis zum kleinen Zeh. So fest ich konnte drückte ich meine Daumen und hoffte ich würde sie nun endlich zu Gesicht bekommen, die eigene Schwester.
Hinter der Gestalt meines Vaters verbarg sich ein kleinerer Schatten, der nach wenigen Sekunden die Tür schloss und sich in die Helligkeit der durch die Fenster scheinenden Sonnenstrahlen traute.
Es war das Mädchen, wie Mom es beschrieben hatte.
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Widmung » die hyperaktive, kleine Sonji (:
Alles Liebe,
Romy
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Naive
Teen Fiction» Um meine Geschichte erzählen zu können, müsste ich mich erst einmal daran erinnern können « -Carly Vier Wochen lang lag sie im Koma, seit zwei Wochen ist sie wieder unter den 'Lebenden' und versucht Tag für Tag ihre Memoiren zurückzuerlangen. Dies...