Kapitel 5 - Sagen und Legenden

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Meiner Mutter sagte ich, ich würde im Park spazieren gehen. Unserem Kutscher Archibalt erzählte ich die Wahrheit, bläute ihm aber ein, es für sich zu behalten. Er stimmte zu, wenn auch sehr widerwillig. Sylvester hatte ich dieselbe Lüge aufgetischt, wie Mutter.

 Er hätte sonst darauf bestanden mich zu begleiten und das konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen. In der Kutsche zog ich mir die Kapuze meines dunkelblauen Mantels tief ins Gesicht, während wir uns durch die Straßen Londons schlängelten. Hier waren die Häuser weniger prunkvoll, die Straßen dreckiger und die Spelunken zwielichtiger, als in Mayfair. 

Der Verkehr war ein absoluter Albtraum. Die London Bridge war zu eng für die vielen Kutschen und Fuhrwerke, die die Themse überqueren wollten. Selbst jetzt noch, nachdem die Wohnhäuser darauf abgerissen worden waren. Die Hektik und das Gedränge wurden begleitet von den gebrüllten Schimpfworten, verärgerter Londoner, die sich stritten und beleidigten und damit den ganzen Verkehr aufhielten. 

Endlich erreichten wir Southwark. Archibalt stoppte die Kutsche und stieg vom Bock um mir heraus zu helfen. Bevor ich seine Hand loslassen konnte, warf er mir einen kritischen Blick zu und sagte »Ich hoffe sehr, diese Art von Ausflügen werden nicht zur Gewohnheit, Lady Lucinda. Ihre Mutter wäre sehr erbost, wenn Sie herausfände, dass ich sie dabei unterstützt habe« Ich musste lächeln, als ich seinen ernsten Gesichtsausdruck sah. Archibalt hatte schon für mich und meine Geschwister geschwindelt, als wir noch Kinder waren und uns vor unserer schrecklichen Gouvernante versteckt hatten, die uns Spinett spielen beibringen sollte.

 »Ach Archibalt, ich versichere ihnen, es ist das letzte Mal!« Er seufzte bei dieser Lüge nur und setzte sich dann wieder auf den Kutschbock. Entschlossen wandte ich mich nun dem Gebäude vor mir zu. Elegante Säulen zierten den Nordeingang des Hospitals und eine Marmorstatue vervollständigte das Bild. 

Zögernd trat ich ein und sah mich um. Von innen war es sauberer, als erwartet und auch der Geruch ließ sich aushalten. In Reihen waren Pritschen aufgestellt worden, auf denen die Patienten lagen. Frauen mit Schürzen brachten Essen oder frische Laken, wuschen die Kranken und fegten den Boden. 

Wie aufs Stichwort kam eine davon, eine junge Frau von etwa zwanzig, auf mich zu. Sie trug einen Korb mit Verbänden unter dem Arm und musterte mich überrascht. »Habt ihr euch verlaufen, my Lady?« Ich setzte ein verbindliches Lächeln auf. »Nein, ich suche jemanden« »Einen Verwandten?« fragte sie spitz und beäugte mich von Kopf bis Fuß. 

Unbehaglich zupfte ich am Stoff meines aufwendig bestickten, blauen Kleides herum, dass ganz und gar nicht zu den schlichten Roben der Schwestern oder den schmutzigen Hemden einiger Patienten passte. »Es ist keine bestimmte Person« antwortete ich. »Ich habe mich nur gefragt, ob es hier jemanden gibt, der behauptet von einer Art Monster angegriffen worden zu sein«. Sie runzelte abschätzig die Stirn. »Ein Monster?« vergewisserte sie sich gedehnt. »Hören sie, ich weiß wie absurd das klingen mag, aber es ist mir wirklich wichtig, es hat spitze Zähne und trinkt Blut...«

 »Es tut mir sehr leid, aber ich kann ihnen nicht helfen« unterbrach sie mich ungeduldig. »Ihr sollten besser gehen, dies ist kein Ort für eine Dame. Auf Wiedersehen« Dann drehte sie sich um und eilte zu einem der Regale, wo sie sogleich damit begann die Verbände einzuräumen. 

Einen Moment blieb ich perplex stehen. War es das etwa schon? Mein einziger Hinweis? »Nehmt es ihr nicht übel« erklang plötzlich eine Männerstimme mit einem Akzent, den ich nicht ganz einordnen konnte. Vielleicht Russisch? Als ich mich umdrehte, sah ich einen Mann um die fünfzig, der einen Leinenbeutel in der einen und eine brennende Kerze in der anderen hielt. 

»Miss Mary hatte einen langen Tag. Ein Patient hat sich vorhin auf sie erbrochen und Dr. Westfield fand, sie hätte die Betten heute nicht ordentlich genug gemacht und sie gebeten, sich ein Beispiel an Miss Hester nehmen«. Er beugte sich leicht zu mir und fuhr dann mit gedämpfter Stimme fort »Miss Mary kann Miss Hester nicht ausstehen!« 

»Sie scheinen sich gut auszukennen« sagte ich freundlich. Er nahm seinen Hut hab und verbeugte sich ungelenk vor mir. »Wenn ich mich vorstellen darf...mein Name ist Ciprian Mocanu, my Lady!« Ich knickste leicht. »Lady Lucinda« stellte ich mich vor, verzichtete aber darauf, meinen Nachnamen zu erwähnen. Ich wollte nicht riskieren, dass jemand den ich kannte von meinem heimlichen Ausflug erfuhr. 

»Verzeihen sie, my Lady, aber ich habe zufällig ihre Unterhaltung mitangehört« sagte Mr. Mocanu und sah sich misstrauisch im Hospital um. Dann fügte er mit gesenkter Stimme hinzu: »Das Monster von dem sie sprachen...Ich habe es gesehen«

Mr. Mocanu führte mich durch den Raum zu einer Nische, wo ein Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, seelenruhig in einem Bett lag und schlief. Mr. Mocanu nahm setzte sich vorsichtig neben ihn auf das schmale Bett und bot mir den Schemel daneben an. Dann zog er ein Bündel Kräuter aus seiner Ledertasche. 

»Engelwurz« erklärte er knapp. »hält die bösen Geister fern« Er entzündete das trockene Kraut an der Kerzenflamme. Dicker, würzig duftender Rauch stieg auf und kroch in meine Nase. 

Ich konnte mir ein Husten nicht verkneifen, aber er ließ sich dadurch nicht beirren und schwenkte das Bündel langsam hin und her. »Wer ist der Mann?« fragte ich vorsichtig, woraufhin Mr. Mocanu traurig lächelte. »Mein Bruder Florin. Er ist vor zwei Wochen angegriffen worden, von einem Strigoi« 

Sein Akzent war nun stärker geworden, so dass ich Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Trotzdem hing ich gebannt an seinen Lippen. »Wisst ihr was ein Strigoi ist, my Lady?«

 Ich schüttelte meinen Kopf. »Nein. Können sie mir davon erzählen?« Er holte tief Luft und beugte sich näher zu mir. »Unsere Großmutter hat uns die Geschichten erzählt, zuhause in Rumänien. Es sind verstorbene Seelen, die zuerst als Poltergeister ihr Unwesen treiben. Irgendwann werden sie sichtbar und betteln bei ihrer Familie um Essen, verbreiten Krankheiten und bestehlen sie. Dann töten sie ihre Familie und trinken das Blut, dass aus ihren Herzen fließt« 

Er senkte verheißungsvoll die Stimme und mir lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Die Luft fühlte sich plötzlich kälter an und der Rauch tauchte uns in dichten Nebel. »Manchmal sind die Strigoi auch lebendig. Sie verhalten sich ganz normal, bis zum Andreastag. Dann stehen sie um Mitternacht auf, um mit ihren Artgenossen zu kämpfen. Selbst gesehen hatte ich noch keinen, aber in unserem Dorf gab es einmal einen Strigoi, als unser Vater noch ein Kind war. Vor zwei Wochen dann liefen Florin und ich nachts am Fluss entlang. Da sprang ihn ein Monster an, mit spitzen Reißzähnen. Er hat Florin gebissen, in den Hals, und ist erst verschwunden, als ich ihm mein Kruzifix in den Rücken geschlagen hab'« 

Ich sah genauer hin und entdeckte tatsächlich eine Silberkette an Mr. Mocanus Brust, mit einem glänzenden Kreuz als Anhänger. »Was geschieht, wenn man gebissen wird?« fragte ich leise und war mir dabei nicht sicher ob ich die Antwort hören wollte. Er drückte den Engelwurz auf den Holzdielen aus und legte ihn dann neben Florins Kopf. Lange betrachtete er seinen Bruder, bis er schließlich erwiderte: »Man stirbt. Und wenn eine Katze über das Grab läuft, ersteht man wieder auf und wird selbst zu einem Strigoi. Aber Florin ist nicht tot. Er schläft nur«

 Ein schwerer Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Unter anderen Umständen hätte ich Mr. Mocanus Erzählungen als Ammenmärchen abgetan. Fantastereien, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Nun jedoch, war ich mir da nicht mehr so sicher. 

»Ich sollte jetzt gehen« krächzte ich und erhob mich. Mr. Mocanu nickte verstehend und stand ebenfalls auf. Dann verbeugte er sich vor mir und raunte »Ich weiß nicht, was sie jetzt vorhaben, my Lady, aber seien sie vorsichtig! Mit den Toten ist nicht zu spaßen«

 Ich knickste tief und erwiderte »Ich danke ihnen, Mr. Mocanu. Ich hoffe ihr Bruder erholt sich bald. Auf Wiedersehen« »Auf Wiedersehen, my Lady, möge Gott sie schützen« Als ich wieder auf der Straße stand und in die Kutsche einstieg, befiel mich ein seltsam beklemmendes Gefühl. Diese Sache war größer als ich anfangs dachte und zum ersten Mal bekam ich wirklich Angst vor dem, was ich entdecken würde.

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Lena

Die sterbliche BaroninWo Geschichten leben. Entdecke jetzt