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45,5 kg, 22.September

Es klopfte an meine Tür und kurz darauf schob meine Mum den Kopf durch die Tür: „Aufstehen, mein Schatz." Demonstrativ streckte ich mich und gähnte laut, damit es so aussah, als hätte sie mich gerade erst aufgeweckt. „Bis gleich beim Frühstück.", sie knipste das Licht an und ließ mich dann alleine. Gut, sie hatte nichts bemerkt. In den letzten Monaten war ich echt zu einer guten Schauspielerin geworden.

Dieses Schauspiel spielte ich ihr jeden Morgen vor, denn in Wirklichkeit war ich schon vor einer Stunde aufgestanden und hatte seitdem etliche Sit-Ups gemacht, damit ich gleich meinen Alibi-Joghurt ohne Probleme essen konnte. Zu diesem zwang meine Mutter mich nämlich jeden morgen, damit sie das Gefühl hatte, wenigstens irgendwas gegen meine Abnahme zu tun. Aber das war okay für mich, solange es bei diesem Joghurt blieb. Er hatte pro Becher 100 Kalorien, welche ich schon bevor ich ihn überhaupt gegessen hatte durch meinen Morgensport wieder verbrannt hatte.

Auf diese kleinen Dinge musste ich mich seit Neuestem einlassen und meiner Familie so etwas Normalität vorgaukeln, damit sie nicht noch misstrauischer wurden oder sich noch mehr um mich sorgten. Schließlich war bei mir alles okay. Wirklich.

Trotzdem stand ich jetzt mühsam auf, da die Schule in der letzten Zeit der absolute Alptraum für mich geworden war. Meine Freundinnen beachteten mich kaum noch, da ich sie kaum noch beachtete, Katy war nun mit Josh zusammen und hatte deshalb auch keine Zeit mehr für mich, meine Noten waren auch nicht mehr das was sie mal waren und konzentrieren konnte ich mich schon dreimal nicht. Es war verschwendete Zeit, um ehrlich zu sein. Ich könnte in dieser Zeit so viel Sport machen oder einfach nur allein sein. Was ein Traum.

Dennoch stand ich auf, weil man es so von mir erwartete. Mein erster Gang war wie immer die Waage: 45,5 kg. Ein Gefühl der Freude breitete sich in mir aus. Nur noch 600 Gramm und mein Gewicht wäre näher an der 40 als an der 50! Glücklich drehte ich mich mehrmals im Kreis und fühlte mich dabei so leicht wie eine Feder im Wind.

Doch sobald ich meinen Blick zum Spiegel schweifen ließ, war dieses Gefühl auch schon wieder vorbei. Natürlich sah ich auch, dass ich dünner geworden war, dass ich weniger Platz in dieser überfüllten Welt einnahm. Aber trotzdem war da noch etwas zu viel Fett, hier könnte man noch die Muskeln mehr straffen und hier war einfach noch zu viel ich. Ich drehte mich seitlich, sodass ich meinen Rücken sehen konnte. Mein Rücken war einer der wenigen Dinge, die so halbwegs okay waren. Die Wirbel schauten immer mehr raus und besonders beim Sit-Ups machen spürte ich sie immer hart auf dem Boden - deshalb auch die Blutergüsse. Sogar die Rippen konnte ich immer mehr ausmachen.

Du bist jetzt schon schöner als du jemals warst. Doch perfekt bist du noch nicht und das ist es, was du willst - Perfektion!

Für die Schule wählte ich einen übergroßen Hoodie aus - wobei mittlerweile alle meine Sachen übergroß waren - um mich darunter zu verstecken. Dazu eine Skinnyjeans, die bei mir aber zur Baggyjeans mutiert war. Im Bad griff ich zur Bürste, doch schon nach ein paar mal kämmen war die Bürste voller Haare, weshalb ich es sein ließ und sie stattdessen zu einem unordentlichen Zopf flechtete.

Meine dunklen Augenringe konnte kein Concealer der Welt mehr verdecken, weshalb ich einfach ungeschminkt blieb. So musste ich mich wenigstens nicht länger als notwendig im Spiegel angucken.

Nachdem ich dann meine Tasche geschultert hatte, die mir seltsamerweise auch immer schwerer vorkam, ging ich runter um mich dem Joghurt zu stellen. Wie immer trank ich erstmal ein großes Glas kaltes Wasser, um meinen Magen schon etwas aufzufüllen. Dann setzte ich mich an meine Platz, an welchem der Joghurt und auch ein Löffel schon auf mich warteten.

Meine kleine Schwester Tessa saß ebenfalls am Tisch, doch sie schaute kaum auf als ich mich setzte, sondern starrte nur in ihr Müsli. Seit einiger Zeit sah sie mich kaum noch an.

Die Anwesenheit meiner Mutter lastete schwer auf mir, weshalb ich die Folter nicht länger aufschob, sondern langsam den Deckel abzog. Wie immer war es die Sorte Vanille - die Sorte mit den wenigsten Kalorien. Ich atmete einmal tief durch, dann nahm ich den Löffel in die Hand und rührte in der cremigen Masse rum.

Widerwillig schob ich mir einen halbvollen Löffel Joghurt in den Mund, wo ich ihn lange ließ, bevor ich ihn runterschluckte. Als meine Mum der Meinung war, ich hätte so gut wie alles gegessen, verließ sie die Küche, um sich noch fertig zu schminken. Sofort stand ich auf und schmiss den noch halbvollen Joghurt in den Müll. „Ich weiß, was du da machst..", murmelte Tessa leise in ihr Müsli. Erschrocken drehte ich mich um: „Was hast du gesagt, Tessa?"

Das kleine blonde Mädchen sah nur kurz auf, dann schob sie sich einen Löffel Müsli in den Mund, so als wäre nichts geschehen.

Endlich klingelte es zur Pause. Zwar war Englisch eines meiner Lieblingsfächer, doch konnte ich nur an die Situation heute morgen denken. So langsam fragte ich mich, ob ich mir das alles nur eingebildet hatte. Schnell packte ich meine Sachen zusammen und stand auf, doch scheinbar war dies etwas zu viel für meinen Körper gewesen, denn mir wurde kurz schwarz vor Augen.

„Olivia? Alles okay?", ich spürte eine Hand auf meinem Arm, vermutlich war es Katys, denn sie saß neben mir. Gerade als ich antworten wollte, spürte ich, wie mir auf einmal der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Den Aufprall spürte ich nicht mehr.

Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt