Verzicht und Vergeltung

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Meine Familie ist der einzige Ort an dem ich nicht abschalten kann. Ich bewahre euch vor unnötigen Einzelheiten des tiefen Hasses zwischen mir und meinem Bruder. Und doch kann ich es mir nicht entgehen lassen euch anhand von 2 prägnanten Beispielen zu verdeutlichen  wie die Beziehung zwischen ihm und mir ist. Beispiel 1: Es hätte der schönste und entspannteste Morgen seit langer langer Zeit für mich sein können, so ganz zufällig am ersten Tag der Sommerferien. Wenn der kleine Mistkerl nicht um 10 vor 7 (!!!!!) in mein Zimmer geplatzt wäre, mit den Worten: ,,Mari, schnell, beeil dich, du hast verpennt, der Bus kommt schon in 10 Minuten." Ihr könnt euch meine damals stark eingeschränkte Fähigkeit kognitiv logisches Denken anzuwenden in etwa so vorstellen, wie eine, sich ganz langsam in Bewegung setzende, verrostete Fahrradkette, die man zum ersten Mal seit Jahren wieder in Gang zu setzen versucht. Nicht, dass ich mein Hirn mit einer alten, verschmutzten Fahrradkette vergleichen will, aber in diesem Augenblick erschien es mir tatsächlich so, als würde ich ein Mainstream-Spätchecker sein! Ich - Mainstreamspätchecker - sprang panisch aus dem Bett, wobei ich mit den Zehen, in einer ungünstigen Position zwischen Bettmatratze und Lattenrost hängend, kleben blieb und den Boden mit meinem Gesicht küsste. Und just in diesem Moment würde mir klar: Ja, meine 2 jährige Nichte hatte mich entwicklungstechnisch überholt. Denn während meine Nichte mittlerweile in der Lage war sich bei einem Fall mit den Händen Reflex artig aufzustützen, landete ich hingegen nur mit meiner Platten Nase mitten auf dem verstaubten Teppich. Wie ein Hund, der peinlich berührt gegen eine Glasscheibe gelaufen war und so tat als sei nichts geschehen, rappelte ich mich auf und sprintete ins Bad. Ein einziger Blick in den Spiegel genügte um zu wissen, dass ich in diesen verbleibenden 9 Minuten nichts mehr, an dem was ich dort erblickte, noch retten konnte. Daher entschied ich mich lieber in mein schönstes Outfit (Jogginganzug) zu pressen und noch mit der Bürste meinen Haarknoten zu entwirren. Wie ein, kurz vor der Verendung stehender, Rentner keuchte ich mich über den Flur hinweg, rannten die Treppe hinab, schmiss die 3 wichtigsten Dinge in meine Tasche (Handy, Lippenstift und einen Collegeblock) und verließ das Haus. Ich hatte es zwar pünktlich zur Bushaltestelle geschafft, doch nach weiteren 30 Minuten Wartezeit, in der Morgenkälte, erwischte mich die Erkenntnis, dass mich mein kleiner mieser Dreckssack unbeschreiblich hinterhältig verarscht hatte, wie ein Schlag ins Gesicht. Und als ich zurück nach Hause kam lag er in aller Seelenruhe in seinem Bett und tat als wenn er schliefe, nur damit er sich vor meinen Eltern nicht rechtfertigen müsste, warum ich in meiner Eile nicht nur unser gesamtes Haus geweckt hatte, sondern auch unsere Nachbarn. Beispiel 2: Selber zeitlicher Kontext: Sommerferien! Urlaub in Schweden, Abendstunden, Lagerfeuerplatz und viele kindische, angetrunkene Jugendliche rings um mich herum. Da ich dummerweise unter stark einschränkender Sozialphobie litt (manche nennen es auch einfach chronische Schüchternheit), musste ich mich mit den Freunden meines Bruder abgeben, denn sie waren die einzigen die ich hier kannte und die einzigen die mich ein kleines bisschen respektierten. Dies war allerdings nur deshalb der Fall weil ich ihnen Würstchen vom Grill brachte, um dazu zu gehören. Meine beste Freundin Laura , die längst nicht so stark unter "ichtraumichnichtdieheißentypenvondortdrübenanzusprechen" litt, hatte es sich auf dem Schoß derer bequem gemacht, die bereits mit Mofas rumfuhren. Also quasi all jene mit denen ich mich gerne hätte abgeben wollen, wenn meine Beine nicht zu Baumwurzeln mutiert wären und mich keinen Schritt in Richtung männliche Wesen gehen ließen. Laura, die auch sonst ein Recht offener Mensch war, konnte nur ich entblößte, muskuläre Oberkörper in ihrem inneren Auge wahrnehmen und ließ mich mit den Freunden meines Bruders alleine. Ich also, jung, pleite und verzweifelt, rannte mit den Jungs in den Wald und tat als sei ich irgendein Held, der den Gefahren dieser Welt trotze. Irgendwann waren wir an einem Flussbett angekommen. Und ja, ich sage ganz bewusst Flussbett, denn als ich, nachdem ich mich geweigert hatte eine schrumplige Wasserkröte zu küssen, um zu schauen ob es sich dabei um einen Prinzen handle, mit Wucht in den Fluss getränkt wurde und eine biblische Taufe sinnbildlich vollzog, spürte ich, wie sich in meine Stirne spitze Steinchen bohrten. Das war kein Fluss. Nichtmal ein Teich. Und auch kein Bächlein. Das war vielleicht eine etwas tiefere Pfütze. Aber niemals ein Fluss, denn in einem FLUSS hätte ich nicht nach bereits 1,5 Millisekunden den gesamten FLUSSBODEN in meinem Gesicht wiederfinden können. Und die Hand, die mich weitere 10 Sekunden unter Wasser drückte, war selbstverständlich die Hand meines hämisch lachenden, asozialen Bruders Linus. Und hätte ich bei seiner Erzeugung vor 12 Jahren mitentscheiden dürfen, ob er mein Leben bereichern darf oder nicht, so hätte ich dankbar abwinkend verzichtet und gesagt: „Nein nein, lieb gemeint, aber brecht dieses Liebesszenario an dieser Stelle ab!"
Möge der ewige Hass und die tiefe Vergeltung mit ihm sein. In alle Ewigkeit, Amen!

Maren loves RubyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt