Vor einem der Regale stand jemand. Ein Mann. Er hatte mich noch nicht bemerkt und obwohl er mir den Rücken zuwandte, kam ich nicht umhin zu bemerken, wie gut er aussah. Jedenfalls von hinten. Er war groß, mit breiten Schultern und auch, wenn ich wegen der weißen Perücke sein Alter schlecht einschätzen konnte, ließ seine gerade Haltung ihn jung wirken. Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Eine kleine Ablenkung konnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich setzte mein schönstes Lächeln auf und tastete nach meiner Frisur, um sicher zu gehen, dass sich keine Strähne gelöst hatte.
»Kann ich euch helfen?« fragte ich freundlich, in dem zuckersüßen Tonfall, den ich mir für Momente, wie diese aufhob. Der Fremde fuhr erschrocken herum.
»Oh, verdammt!«. Ja, dem konnte ich nur zustimmen. Er war wirklich hübsch. Nicht so makellos schön wie Lancelot, eher auf eine verwegene Art und Weise. Ein paar Strähnen seines dunklen Haares waren unter der Perücke hervor gerutscht und umrahmten so sein kantiges Gesicht.
»Kennen wir uns?« stieß ich perplex aus, denn irgendetwas an ihm, kam mir unheimlich bekannt vor. Andererseits hätte ich mich an ihn sicher erinnert. »Nein, das bezweifle ich« sagte er schlicht mied dabei meinen Blick. Wie unhöflich! Er hätte sich wenigstens vorstellen können! War das etwa zu viel verlangt? Erst jetzt bemerkte ich, dass er etwas hinter seinem Rücken verbarg.
»Sind sie etwa ein Dieb?«. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück und suchte den Raum nach etwas ab, mit dem ich mich verteidigen konnte. Der Kerzenleuchter auf dem Tisch sah schwer genug aus, um jemanden damit weh zu tun. Allerdings müsste ich dazu zuerst den Tisch erreichen und das könnte zum Problem werden, denn der Fremde stand genau zwischen mir und dem Leuchter.
»Nein, um Gottes Willen! Ich stehle nicht« sagte er beschwichtigend. »Was habt ihr dann in der Hand?«. Er zögerte kurz, dann zog er vorsichtig seinen Arm hinter dem Rücken hervor und offenbarte ein schmales Buch. »Ich wollte in meinem Buch lesen, deshalb bin ich hergekommen«.
Misstrauisch beäugte ich ihn. »Ihr bringt euer eigenes Buch in eine fremde Bibliothek, um während einer Teegesellschaft darin zu lesen?«. Hörte er nicht selbst, wie absurd das klang? Ein ertappter Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht, doch er kaschierte es schnell mit einem charmanten Lächeln, das ihn sicher schon öfter aus brenzligen Situationen gerettet hatte. »Na schön, ihr habt mich erwischt, ich wollte mir ein Buch ausleihen«.
»Ausleihen?« sagte ich gedehnt und ließ keinen Zweifel daran, dass ich ihm nicht glaubte. Plötzlich blitzte vor meinem inneren Auge eine Erinnerung auf. »Na ja, für längere Zeit ausleihen« stammelte er schuldbewusst. »Aber ich hätte es irgendwann zurückgegeben, versprochen!« Nein, das konnte unmöglich wahr sein. Das wäre ein zu großer Zufall. »Andererseits hätte es ohnehin niemand vermisst« fuhr er fort. »Ist immerhin eine ziemlich große Bibliothek«.
Doch, er war es ganz sicher. Sogar seine Stimme passte. Guten Abend, my Lady! Erschrocken keuchte ich auf. »Ihr seid der Maskierte, der das Monster vertrieben hat«.
An seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass ich genau ins Schwarze getroffen hatte. »Wovon redet ihr, my Lady?«. »Das wisst ihr ganz genau!« entrüstet stemmte ich beide Hände in die Hüften. »Was fällt euch eigentlich ein? Einfach zu verschwinden ohne mir zu helfen. Mein Vater wäre fast verblutet«.
Er hob eine Augenbraue. »Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich eurem Vater das Leben gerettet. Da wäre wohl eher ein Dankeschön angebracht«. Er hatte ja Recht. Wäre er nicht gewesen, hätte das Monster...der Strigoi, wie Mr. Mocanu es genannt hatte, Vater und mich vermutlich zerfleischt. Trotzdem, wäre es so schlimm gewesen, zwei Minuten länger zu bleiben? Was wenn mich niemand gehört hätte, als ich um Hilfe rief. Oder wenn der Strigoi zurück gekommen wäre.
»Danke« sagte ich widerwillig, woraufhin sein Lächeln sich verbreiterte und er eine Verbeugung andeutete. »Es war mir eine Ehre, sie gerettet zu haben. Auf Wiedersehen«. Er bewegte sich in Richtung Tür, doch ich versperrte ihm kurzerhand den Weg.
»Wartet!«. Er konnte doch nicht einfach so verschwinden! »My Lady, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich sollte nun wirklich gehen«. Er machte einen Schritt nach rechts und ich tat es ihm gleich. So einfach kam er mir nicht davon!
»Erzählt mir davon! Von den Strigoi« rief ich aus, woraufhin er einen alarmierten Blick zur Tür warf. »Könntet ihr bitte etwas leiser sein!« zischte er besorgt. »Das muss nun wirklich nicht jeder hören. Und Strigoi nennt man sie nur in Osteuropa, hier heißen sie Vampire«.
Vampire. Das Wort allein klang schon furchteinflößend. »Bitte. Ich muss mehr darüber erfahren« sagte ich, diesmal deutlich leiser. »Wieso?« fragte er ungehalten. »Glaubt mir, ihr seid besser dran, je weniger ihr wisst«. Eindringlich sah er mir in die Augen, aber ich hielt seinem Blick stand. »Weil ich den Vampir für das zur Rechenschaft ziehen werde, was er meinem Vater angetan hat«. Einen Moment lang sagte er gar nichts, dann brach er plötzlich in Gelächter aus. »Ach ja?« sagte er schmunzelnd. »Und wie wollt ihr das anstellen? Mit Verlaub, ich wurde darauf vorbereitet seit ich sieben war. Ihr wärt tot, noch bevor ihr dem Vampir in die Augen seht«.
Ich ignorierte seinen verächtlichen Gesichtsausdruck und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann bringt es mir bei!«.
»Auf keinen Fall«.
»Wieso nicht?«.
»Weil ich besseres zu tun habe, als einem verwöhnten Mädchen zu zeigen, wie es sein Leben am schnellsten beendet!«. Ich sog scharf die Luft ein. Was fiel ihm nur ein, mich derartig zu beleidigen?
Blitzschnell streckte ich die Hand aus und entriss ihm das Buch, das er hatte stehlen wollen. Er versuchte es sich zurückzuholen, aber ich drehte mich rasch von ihm weg und schlug die erste Seite auf. »Tagebuch von Allistor Palway. Nie gehört. Was wollt ihr damit?«.
Frustriert ließ er seine Hand sinken. »Das hat private Gründe. Könnte ich es bitte wieder haben?«.
»Hm. Ich glaube nicht« sagte ich leichthin und lächelte ihm zu. »Ich wäre allerdings dazu bereit, mich auf einen Handel einzulassen«. Sein Blick glitt von mir zu dem Buch und ich drückte es schützend an mich. »Versucht bloß nicht es mir zu entreißen, ich kann euch versichern, ich werde schreien so laut ich kann und sicherlich nicht verheimlichen, dass ihr vorhattet meinen Vater zu bestehlen«.
Der Fremde seufzte geschlagen und gab auf. »Na schön. Was muss ich tun, um das Buch zu bekommen?«.
»Ihr helft mir dabei, den Vampir zu finden und zu töten« sagte ich bestimmt. »Egal wie lange es dauert«. Ohne zu zögern nickte er. »Einverstanden«. Erstaunt runzelte ich die Stirn.
Das Buch musste wirklich wichtig für ihn sein, wenn er ohne mit der Wimper zu zucken zustimmte. Ich überreichte es ihm feierlich und er verstaute es sofort in einer Tasche seines Gehrocks. »Ihr habt euch noch gar nicht vorgestellt« bemerkte ich plump, woraufhin er schmunzelte und sich vor mir verbeugte. »Lord Salverton. Sehr erfreut«.
»Lady Lucinda Hastings« erwiderte ich und streckte ihm meine Hand entgegen, die er sacht ergriff. Er deutete einen Kuss an und ließ meine Hand danach vorsichtig los.
Nun war es also soweit. Ich würde Teil einer Welt werden, von deren Existenz ich noch vor zwei Wochen nicht einmal geahnt hatte. Ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus. Eine Mischung aus Angst und Neugierde. Und wenn ich ganz ehrlich war, auch Vorfreude.
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Und da isser ja endlich: The male lead character. Was haltet ihr von ihm und was könnte es mit dem Buch auf sich haben?
Meinungen gerne in die Kommis!
Lena
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Die sterbliche Baronin
FantasíaEngland, 1774 Die Londoner Adelsgesellschaft lebt ausgelassen und ohne Sorgen. Mit rauschenden Bällen, prunkvollen Soirees und der neusten Mode aus Frankreich kann man sich leicht die Zeit vertreiben. Lucinda Phillipa Hastings ist Teil dieser Welt...