Das letzte Mal hat Michelle ihre Mutter vor zwölf Jahren in dieser Stadt und in diesem Krankenhaus besucht. Zugegeben, damals war nur ihr rechter Arm eingegipst und nicht beide Beine und ein Handgelenk, aber der Grund ihres Aufenthalts war der gleiche; er war bei jedem Krankenhausaufenthalt der gleiche: Michelles Vater.
Das Krankenzimmer wirkt irritierend vertraut; fast so als hätten die letzten zwölf Jahre nicht stattgefunden. Da ist das gleiche graue Bettgestell und der gleiche graue Linoleum Boden. Im Bett liegt die gleiche Person. Ihre Haare haben die Farbe verloren und sie ist tatsächlich noch abgemagerter als zuvor, doch es ist ohne Zweifel Michelles Mutter. Wenn die alten Narben nicht Beweis genug sind, dann ist es der Nachttisch, auf dem weder Karten noch Blumen stehen. Sie hat keine Freunde und jeglicher Kontakt zu
Verwandten ist schon vor Ewigkeiten erloschen; Michelles Vater hat sich persönlich darum gesorgt.
Vor einer Woche hat Michelle den Anruf der Polizei erhalten. Ihre Mutter wurde mit mehrfachen Knochenbrüchen und einem Schädeltrauma ins Krankenhaus transportiert. Michelles Vater ist bei dem Unfall gestorben. Er hatte mehr als 2 Promille Alkohol im Blut. Komisch, wie das Schicksal
ausnahmsweise genau das tut, was es sollte.
Michelle lässt die Tür vorsichtig ins Schloss fallen und setzt sich unsicher in den abgenutzten Stuhl gegenüber des Bettes. Wie redet man mit jemandem, den man zwölf Jahre lang vergessen wollte? Vor dem man zwölf Jahre zuvor geflohen ist? Wäre es wirklich so schlimm gewesen, wenn ihre
Mutter einfach nicht mehr aufgewacht wäre?
„Hör auf damit!", flüstert sie und blickt panisch zum Bett. Sie schläft noch. Glück gehabt.
Michelle hat ihrer Mutter oft beim Schlafen zugeschaut. Manchmal lag sie dabei sogar in ihrem Bett. In den meisten Fällen war es aber die Couch oder der Fußboden. An einem Morgen hat sie sie sogar auf dem Esstisch in der Küche gefunden. Sie lag rücklings darauf und um sie herum standen die Flaschen der letzten Nacht. Und der Nacht davor. Und der davor. In ihrem Mundwinkel sammelte sich Speichel, der auf den ausgebrannten Zigarettenstummel darunter tropfte. Schon damals standen nur noch vereinzelte Zähne in ihrem Mund.
Die Gestalt in dem Bett regt sich. Stöhnend dreht sie ihren Kopf von einer Seite auf die andere.
Noch ist Zeit. Noch kannst du fliehen, denkt Michelle und muss sich am Stuhl festhalten, um nicht aus dem Zimmer zu stürmen.
„Ich geh nur schnell zum Laden." Das waren die letzten Worte, die sie zu ihrer Mutter sagte.
„Beeil' dich gefälligst! Und wehe du vergisst schon wieder meine Zigaretten!", lautete die Antwort aus dem Wohnzimmer.
„Chelly?"
Michelle wird aus ihren Erinnerungen gerissen und schreckt hoch. Ihre Mutter schaut sie an.
„Ähm." , zögert Michelle. „Hallo. Mutter."
Ihre Augen sind müde, aber auch... erwartungsvoll? Angestrengt streckt sie ihren Arm aus.
„Komm her, Chelly."
Oh Gott, denkt Michelle. Will sie eine Umarmung? Sie erinnert sich an ihre letzte gemeinsame Umarmung. Ihre Mutter schlang die Arme um das kleine Mädchen und stützte sich mit all ihrem Gewicht auf sie. Sie roch nach Alkohol und Erbrochenem. Michelle konnte sie nicht lange halten. Das
war eine der Nächte, die ihre Mutter auf dem Boden verbrachte.
Vorsichtig geht Michelle mit hölzernen Beinen auf ihre Mutter zu und legt den Arm um sie. Sie riecht nicht nach Alkohol. Lediglich der klinische Geruch, den alle Krankenhausflure der Welt gemeinsam haben, umgibt sie.
„Warum kommst du denn so spät? Wurdest du in der Uni aufgehalten?", fragt ihre Mutter.
„In der Uni aufgehalten?!" Unsicher macht Michelle einen Schritt zurück.
„Ja. Du studierst doch, oder? Hast du nicht früher so oft davon geredet?"
Die Ärzte hatten sie auf das hier vorbereitet. Ein Schädeltrauma ginge oft mit Gedächtnisverlust einher. Aber soviel konnte sie doch nicht vergessen haben, oder? Oder?!
Eine der letzten Unterhaltungen, die Michelle und ihre Mutter je führten, handelte von der Uni. „Du glaubst doch wohl nicht, dass wir das für dich bezahlen, oder?", fragte ihre Mutter. „So dumm bist du doch nicht, oder Michelle?" Michelle hatte keine Antwort. „Wenn du diesen Unsinn willst,
dann such dir gefälligst Arbeit. Du bist jetzt 16 Jahre alt. Spar dir dein eigenes Geld zusammen! Geh arbeiten!"
Michelle war nie an einer Universität und ihre Mutter hatte keine Ahnung davon. Sie erinnerte sich nur daran, dass Michelle früher oft davon sprach. Was hatte sie noch vergessen?
„Ja...", setzt Michelle an. Was, wenn ihre Mutter sich an all das nicht mehr erinnert? „Ja. Ich wurde an der Uni aufgehalten. Eine wichtige Hausarbeit. Tut mir leid."
Die gebrochene Frau im Bett blickt Michelle mit strahlenden Augen an. „Das ist doch kein Problem, Chelly. Deine Ausbildung geht vor! Wie läuft es denn?"
„Toll! Ich habe fast nur Einsen.", antwortet Michelle und ist sich nicht mal sicher, ob man an der Universität Zensuren oder Punkte bekommt.
„Siehst du. Ich hab doch immer gesagt, dass du nur richtig arbeiten musst.", freut sich ihre Mutter und ihr Blick wird leer. „...oder?"
Michelle beißt sich auf die Lippe. „Ja, das hast du, Mama.", bestätigt sie und beißt noch fester.
„Mama.", überlegt ihre Mutter. „Ich kann mich nicht erinnern, wann du mich das letzte Mal so genannt hast."
Ich auch nicht. Mit fünf?
„Als ich dich das letzte Mal in den Semesterferien besucht habe.", antwortet Michelle monoton.
„Natürlich!" Ihre Augen hellen sich wieder auf. „Meine Tochter studiert und hat trotzdem noch Zeit für Besuche bei ihrer alten Mutter. Ich hab dich gut erzogen."
Michelles Zähne bohren sich in ihre Lippe. Ich hab dich gut erzogen.
„Ich kann mich kaum an deinen Vater erinnern. Die Ärzte sagen, er sei gestorben. Müsste ich nicht traurig sein?"
Michelle schaut auf die Narbe über dem linken Auge ihrer Mutter. Eine Bierflasche. Dann auf die Narbe auf ihrem Kopf. Der Türrahmen. Die deformierte Ruine, die einmal ein Ohr gewesen ist. Wieder eine Bierflasche. Die wenigen Zähne, die ihrer Mutter noch geblieben sind. Die Faust. Die
Tischkante. Die Faust. Und wieder die Bierflasche. Ist ihre Mutter nicht weitaus besser dran ohne ihn? Ohne die Erinnerung an ihn?
„Ich trauere für dich mit.", lügt sie. „Er war ein guter Mann und ein guter Vater." Die Augen ihrer Mutter werden glasig und rot. „Man konnte sehen, wie sehr er dich liebte, wenn er dich beim Fernsehen im Arm hielt, oder wenn ihr beide gemeinsam spazieren wart." Ist das Blut an ihrer Lippe? Ich hab dich gut erzogen.
„Hat er nicht auch immer Fußball mit dir gespielt?", fragt Michelles Mutter erwartungsvoll. Michelle denkt an die unzähligen Abende, die ihr Vater betrunken vor dem Fernseher verbracht hat.
„Er konnte gar nicht genug davon bekommen." In einer Hand das Bier, in der anderen die Zigarette. Wenn Michelle im Bild stand, hat er mit der Fernbedienung nach ihr geworfen. „Das waren tolle Tage.", presst sie heraus und beobachtet die Tränen ihrer Mutter.
„Ich werde mich ganz bestimmt wieder an das alles erinnern. Wir haben ein gutes Leben, Chelly. Dein Vater hat sich um uns gekümmert und wir haben dich gut erzogen."
Michelle erinnert sich an ihren letzten Tag Zuhause. Ihr Vater hing bewusstlos in seinem Sessel. Michelles Lippe war bereits geschwollen und sie schmeckte Blut. Wehe du vergisst schon wieder meine Zigaretten!
„Ich hab ein wenig Hunger, Mama.", erklärt Michelle und greift nach der Türklinke. Ihre Mutter ist fröhlich in Gedanken verloren. „Ich geh nur schnell zum Automaten."
Sie schließt die Tür hinter sich und schmeckt Blut.
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Der Geschmack von Blut
Short StoryDas letzte Mal hat Michelle ihre Mutter vor zwölf Jahren in dieser Stadt und in diesem Krankenhaus besucht. Zugegeben, damals war nur ihr rechter Arm eingegipst und nicht beide Beine und ein Handgelenk, aber der Grund ihres Aufenthalts war der gleic...