Erster Akt: Ilmenau ist eine beschauliche Stadt. Idyllisch gelegen, an den Hängen des Thüringer Waldes, wusste schon Goethe, der in Ilmenau zeitweilig als Minister wirkte, die Reize der Natur zu schätzen. Über Ilmenau thront majestätisch sein dicht bewaldeter Hausberg, der „Kickelhahn", von dessen Höhen man bei klarem Wetter bis weit in die sächsische Ebene blickt. Hier auf dem „Kickelhahn" schrieb Goethe, inspiriert durch die überwältigende Natur, sein berühmtes „Wandrers Nachtlied", dessen erste Zeile: „Über allen Gipfeln ist Ruh", die Stimmung, die auch heute noch zu spüren ist, am besten beschreibt. Raven Vollrath (25) kam aus Ilmenau und liebte seine Heimat. Er durchstreifte mit Leidenschaft die urwüchsigen Weiten des Thüringer Waldes, erklomm die Höhen des „Kickelhahns" und fühlte sich durch und durch wohl, dort wo er lebte. Er wohnte noch zu Hause, bei seinen Eltern Maryon und Günther, zu denen er ein inniges Verhältnis pflegte und die ihn nach Kräften bei Allem unterstützten. So auch, als es für Raven schwer wurde, in seinem Beruf in Thüringen einen ordentlichen Job zu finden. Er wollte unbedingt Arbeit finden, weshalb er sich im Winter 2005 entschloss, wie viele andere junge Leute aus den neuen Bundesländern auch, einen Saisonjob im Skizirkus der Tiroler Alpen zu suchen. Ein Bekannter aus einem Nachbarort, Markus (20) und seine Mutter waren vorangegangen. Sie hatten in Zöblen, im beschaulichen Tannheimer Tal, einen Job an einem Schlepplift gefunden und dort sollte auch Raven Geld verdienen können, weshalb er zwei Tage vor Heilig Abend mit seinem kleinen Auto und ein paar Habseligkeiten dort eintraf. Maryon und Günther Vollrath hatten ihren Sohn nur schweren Herzens so kurz vor Weihnachten ziehen lassen, aber sie akzeptierten klaglos, dass die Arbeit in diesem Jahr der Familie vorgehen musste. In der ersten Telefonaten berichtete Raven ihnen begeistert von dem schönen Schnee im Tannheimer Tal und dem freudigen Wiedersehen mit Markus und dessen Mutter. Bis er ein eigenes Zimmer gefunden habe, werde er mit Markus und seiner Mutter im Liftgebäude der „Rohnenlifte", einem holzgezimmerten Bretterverschlag, auf seiner mitgebrachten Matratze schlafen können. Er hörte sich munter und hoffnungsvoll an, als seine Eltern zum letzten Mal mit ihm telefonierten. Das war am 23. Dezember 2005. Danach
hörten Maryon und Günther Vollrath nichts mehr von ihm. Er rief nicht am Heiligen Abend an, nicht am ersten und zweiten Weihnachtstag, nicht danach. Sein Handy war ausgeschaltet, alle verzweifelten Versuche seiner Eltern ihn zu erreichen, gingen fehl. Höchst besorgt fuhren seine Eltern nach Zöblen um nach ihm zu suchen. Sein Auto stand unverschlossen vor dem Liftgebäude, seine Schuhe und einen Socken fanden sie im Kofferraum. Aber von Raven keine Spur! Nein, meinte Markus stockend zu den Eltern, er wundere sich auch. Am 23. seien er, Raven und seine Mutter noch ein paar Bier in einer Gaststätte trinken gegangen und danach hätten er und Raven sich in einem Raum schlafen gelegt. Raven habe auf seiner Matratze geschlafen, die Mutter ín einem Nachbarraum. Nachts sei Raven plötzlich aufgebrochen. Wohin, wisse er nicht. Vielleicht zu einem Mädchen, dass er kennengelernt habe. Seine Matratze habe er mitgenommen. Maryon und Günther Vollrath starteten eine Suchaktion. Sie hängten Steckbriefe auf, befragten Einheimische, nervten die Polizei und versuchten es mit Aufrufen über die örtliche Presse. Raven blieb verschwunden!
Zweiter Akt: Als ein Ehepaar aus Jülich im Juni 2006 durch das Tannheimer Tal wandert, nehmen sie auf einer Brücke, die über das Steinbett eines ausgetrockneten Schmelzwasserbaches führt, einen beissenden Geruch wahr. Der Blick in das Bachbett bietet einen schauerhaften Anblick. Umwölkt von Myriaden von Fliegen, liegt dort ein mumifizierter, von Wildfraß entstellter Leichnam. Die Bekleidung ist zerrissen, daneben findet man einen Schuh. Es ist das Gegenstück zu jenem Exemplar, dass die Eltern im Kofferraum von Ravens unverschlossen vor dem Liftgebäude abgestellten Auto gefunden haben. Der DNA-Abgleich bringt die furchtbare Gewissheit und nimmt den Eltern die letzten Hoffnungen. Ravens letzte Reise führte nach Tirol. Die Berge, die er so liebte waren sein Schicksal. Maryon und Günther Vollrath weigern sich indes an einen Schicksalsschlag zu glauben. Auch dann, als die Tiroler Behörden nach der Obduktion die Akten schließen. Im Oberschenkelgewebe konnte Blutalkohol nachgewiesen werden, knöcherne Verletzungen findet man nicht. Natürliche Todesursache durch Erfrieren, so lautet die These. Raven sei angetrunken vom „Rohnenlift" aufgebrochen, habe seine Matratze mitgenommen (die beim Leichnam nicht gefunden wurde) und schließlich erfroren. Ein dunkler Verdacht keimt in Vollrath's auf. Ein Gefühl, dass sich rasch zur Gewissheit verdichtet. Raven wurde umgebracht! Weshalb sonst fand man nur einen Schuh bei ihm und den anderen im Auto? Weshalb hätte er aus dem Liftgebäude mit einem Schuh am Fuß, die Matratze geschultert, mitten in der Nacht aufbrechen sollen? Weshalb hat ihnen Markus, von seinem
Verschwinden nicht berichtet, obwohl Ravens Auto vor dem Liftgebäude geparkt stehen blieb? Sie schalten einen ortsansässigen Anwalt ein, fahren viele Male selbst von Ilmenau nach Tirol um Nachforschungen anzustellen, sie setzen Himmel und Hölle in Bewegung um weitere Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaft durchzusetzen. Erfolglos, vielfach schlägt ihnen blanke Abneigung entgegen. Sie schadetem dem guten Ruf des Tannheimer Tals, so hören sie es des Öfteren. Die Akte bleibt geschlossen. Sie beschließen nicht aufzugeben. Das sind sie Raven schuldig.
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"Über allen Gipfeln ist Ruh" Der Fall "Raven Vollrath"
Short StoryReales Justizdrama über ein thüringisches Ehepaar, das den Mord an ihrem Sohn Raven gegen alle Widerstände in Justiz und Gesellschaft aufklärt, den Mörder findet und einem Urteil zuführt.