Herr und Frau Dickenscheid

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   „Da bist du ja wieder!“, begrüßte mich Frau Dickenscheid mit offenen Armen an ihrer Wohnungstür, nachdem ich auf meinen Zehenspitzen vor ihrer Hausklingel gestanden war und neugierig versucht hatte, durch den Türspion zu linsen. Das konnte ich gleich wieder vergessen, als ich merkte, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war mit meinen Ein-Meter-sechs.
    Ich war seit meinem letzten Geburtstag einen Zentimeter gewachsen!
Schon von unten hatte ich das Essen gerochen und mich gefreut, was die gute Dame heute feines gezaubert hatte. 
    Es war zwar kein Spektakel, nichts Außergewöhnliches, was auf dem Tisch landete, dennoch wurde ihr das Kochen liebevoll in die Wiege gelegt.
    „Komm herein, Liebes.“, lächelte sie mit ihrem perlweißen Gebiss und zog mich in den Flur. Ich zog meine Schuhe aus und folgte ihr ins Wohnzimmer, welches genauso aussah wie unseres, nur spiegelverkehrt.
    Die Schränke bestanden aus lackiertem, dunklem Holz, in denen kleine Porzellanfigürchen auf kleinen gehäkelten Deckchen standen und freundlich dem Betrachter entgegen lächelten. Ich war die Einzige, die sie nicht anlächelten, weil ich ohne einen Stuhl nicht einmal an die Schublade unterhalb herankam.
    Obwohl unsere Einrichtung nicht gerade moderner war, zumal sich Papa von unserer massiven Riesenkommode und dem alten Teppich, der einem bestickten Kartoffelsack mehr ähnelte als einem Webexemplar aus dem Textilgeschäft, nicht trennen konnte, betrachtete ich Dickenscheids Wohnung als antik.
    „Hermann, sieh mal wer da ist.“, flötete die alte Dame.  
    Im Gehen wippten ihre grauen Locken fröhlich auf und ab. Herman Dickenscheid, der sich auf dem braunen Ledersofa wie immer hinter seiner Zeitung versteckte, linste kurz zu mir hinüber, ehe er sich wieder in die Welt der Druckbuchstaben vertiefte.
    Er trug auffällig, bunte Socken, die, wie ich fand, jedes Mal zu seinen Cordlatzhosen farblich nicht wirklich gut harmonierten, auch wenn Herr Dickenscheid meistens grün-rot-braun-gestreifte Socken bevorzugte. Als perfekten Kontrast trug Frau Dickenschein geblümte Schürzen und flauschige Pantoffeln. Wie ein Rentnerehepaar eben so aussah.
    „Teil der Karpaten.“, murmelte es vom Sofa.
    Herr Dickenscheid, dessen Haare nur noch seitlich wuchsen, kraulte sich gerade nachdenklich seine Halbglatze, während er vergeblich versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen.
    „Gib dir nicht so viel Mühe, Hermann, hörst du?“, meinte Frau Dickenscheid, die gerade den Tisch deckte.
    „Ach Quatsch, ich werde ja wohl noch ein Kreuzworträtsel lösen können.“
    Kopfschüttelnd verschwand seine Frau in der Küche, um ihren Auflauf aus dem Ofen zu holen.
    „Du glaubst doch nicht wirklich, dass das funktioniert.“, redete sie weiter. „Warum sollten ausgerechnet wir ausgewählt werden?“
    Ich saß bereits am Esstisch und hatte einen perfekten Blick auf das Rentnerehepaar.
    „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Herr Dickenscheid kritzelte etwas in seine Zeitung.
   „Hmmm.“, machte er und tippte mit dem Kugelschreiber auf sein Rätsel.
    „Altgriechischer Theaterbau.“
    „Wie wär´s mit Amphitheater?“
Frau Dickenscheid stelle den Auflauf auf den Tisch und sah ihren Mann fragend an.
    „Unsinn! Es hat doch bloß 5 Buchstaben.“
    „Kannst du die blöde Zeitung einmal aus der Hand legen? Der Auflauf wird kalt.“ Der kam gerade dampfend aus dem Ofen. Heute wäre ich mir vorgekommen wie bei Loriot.
    Ich sah zwischen Herrn und Frau Dickenscheid hin und her, bis Herr Dickenscheid die Zeitung auf den Couchtisch fallen ließ, sich ächzend und stöhnend im Rahmen der Möglichkeiten von seinem Sessel hievte, und nach seinem Gehstock griff, um langsam, aber sicher zum Esstisch zu stöckeln.
    Im Gegensatz zu ihm war seine Frau noch fit auf den Beinen. Insgesamt sah sie viel erholter aus mit ihren roten Wangen und dem frisch aussehendem grauen Lockenschopf.
    Dennoch legte Herr Dickenscheid großen Wert darauf, jeden Morgen höchstpersönlich zum Bäcker in die Bahnhofstraße zu laufen, um sich seine morgendliche Zeitung zu kaufen. Kaum war er aber zu Hause, ließ er sich aufs Sofa fallen und beschäftigte sich den ganzen Tag damit, Kreuzworträtsel zu lösen und Zeitungsartikel zu kritisieren, während seine Frau den Haushalt schmiss und ihren Mann alle fünf Minuten tadelte.
    An und für sich wirkte das alte Ehepaar trotz all den Harmonien, Tadeleien und vor allem Fürsorglichkeiten lässig, so, als hätten sie das entspannteste Leben auf Erden.
    Auch wenn Herr Dickenscheid lieber auf der faulen Haut lag und seiner Frau den Haushalt überließ.
    „So habe ich wenigstens eine Beschäftigung.“, sagte sie immerzu, wenn ich sie darauf ansprach, warum sie so viel arbeitete. So sah Mama das nie. Die war heilfroh, wenn sie sah, dass die Waschmaschine ihren Schleudergang beendet hatte und sie daraufhin ihre Wäsche aufhängen konnte.
  Wenn ich nicht Zuhause war, weil ich gerade Davids Kinderzimmer auf Hochtouren brachte oder Annas Gartenhäuschen in heilloses Chaos versinken ließ - zu Anna kommen wir später - , war Mama bereits am Nachmittag mit der Hausarbeit fertig.
  So lag sie abends, wenn ich heimkehrte, auf unserem blauen Samtsofa, in das ich mich verewigt hatte - Ich rede von den Bissspuren -, und schaute sich eine Folge „Reich und schön“ an. Daher sah es auch so aus, als hätte Mama den ganzen Tag gefaulenzt, jedenfalls in Papas Augen.
 
Ich glaube, die Dickenscheids verfügten über ein Fernsehgerät nicht, denn als ich sie fragte, ob sie nicht doch irgendwo eines hätten, schaute mich Frau Dickenscheid irritiert an und Herr Dickenscheid runzelte die Stirn.
    Erst als ich mich persönlich davon überzeugt hatte und daraufhin schnurstracks ins Schlafzimmer des alten Ehepaars marschiert bin, um festzustellen, dass dort tatsächlich kein Fernseher stand, erklärte ich mich bereit, mit meinen sieben Jahren die verwirrten Dickenscheids über die unglaublichen Fortschritte der Menschheit und über die Medientechnologie, die mittlerweile den gesellschaftlichen Markt begeisterte und vor allem alle besessen machte, aufzuklären.
„Wer braucht schon eine Kiste, die den ganzen Tag nur flimmert, wenn das Leben in der Zeitung tagtäglich eins zu eins dokumentiert wird?“, kommentierte Herr Dickenscheid und richtete seinen Blick wieder auf seine heißgeliebte Zeitung.
    „Ich brauche keine Flimmerkiste in meinem Wohnzimmer.“, sprach die Zeitung weiter, woraufhin Frau Dickenscheid nur den Kopf schüttelte.
    „Ach Hermann.“
    Die Zeit bei Dickenscheids war unvergesslich, ebenso wie die Atmosphäre, die dort herrschte.
  Auch wenn Herr- und Frau Dickenscheid sich oftmals in die Wolle kriegten, besuchte ich das alte Ehepaar immer gerne.

Auf den Spuren der KatastrophenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt