Kapitel 34

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Lucinda

»Wo ist eigentlich Álvaro?«, fragte Logan widerstrebend.

Ich seufzte. Mir war klar, dass er mit dem Vampir durchaus noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Oder beziehungsweise in dem Fall einen ganzen Hühnerstall. Natürlich hatte Logan mich heute morgen vor der ersten Stunde abgefangen und in den nächstbesten Abstellraum gezogen.

Ich hatte ihm gestern Abend erzählt, dass ich die Nacht bei Álvaro bleiben würde. Eigentlich hatte Logan gar keine andere Wahl gehabt, als mir zuzustimmen. Auch, wenn er mich erst ließ, nachdem ich mit ihm telefoniert und ihm tausendfach versichert hatte, dass es mir wirklich gut ging.

Von den Würgemalen hatte ich ihm allerdings nichts gesagt. Álvaro und ich hatten den ganzen Abend versucht, sie irgendwie wegzubekommen. Leider vergebens. Der Vampir hasste sich dafür, mir das angetan zu haben, jedoch war ich lediglich dankbar, dass er mich nicht wirklich getötet hatte. Die Chance dazu hatte er ja. Auch meine Nahtoderfahrung verschwieg ich Logan.

Heute morgen war ich dann noch schnell zu Hause gewesen und hatte kläglich versucht, mit dem bisschen Schminke, das ich besaß, die blauen Handabdrücke an meinem Hals zu verdecken. Wirklich viel hatte es nicht gebracht. Zwar waren die Male auf den ersten Blick nicht mehr sichtbar, aber gerade Logan würde es nicht bei nur einem Blick belassen. Weswegen ich mich klischeehaft a là The Vampire Diaries an einem schwarzen Halstuch bedient hatte.

In der Abstellkammer hatte Logan natürlich sofort auf besagtes Tuch hingewiesen und verlangt, dass ich es abnehmen sollte. Und egal, womit ich argumentierte, er blieb bei seiner Meinung. Vermutlich musste ich das nicht weiter ausführen. Ich konnte froh sein, dass Logan bis jetzt dabei geblieben war, dem Vampir nur böse Blicke zuzuwenden und bei Gesprächen mir mürrisch zu antworten.

Doch würde mein bester Freund wahrscheinlich jetzt das nachholen wollen, was er heute Vormittag so ordentlich zurückgehalten hatte. Allerdings hoffte ich, dass er die verbale Auseinandersetzung vorzog. Auch wenn ich nicht dran glaubte.

»Álvaro ist noch in der Schule, der Direktor wollte ihn noch einmal wegen seinem Fehltag gestern sprechen«, antworte ich ruhig. »Er sollte aber jeden Moment kommen, ich habe ihm geschrieben, wo wir sind.«

Logen verschränkte die Beine zu einem Schneidersitz und ergriff den blutroten Hefter, der zwischen uns auf der Picknickdecke lag. »Dann lass uns anfangen.«

Unsicher sah ich mich um. Mein bester Freund wollte lesen, das wusste ich. Allerdings hatte ich Angst, dass jemand den Hefter sah und nach dem Inhalt fragte. Zwar bezweifelte ich das stark, doch die kleine, paranoide Stimme in meinem Kopf gab einfach keine Ruhe. Denn es war das erste Mal, dass ich diesen Hefter jemandem zum Lesen gab. Und in der Öffentlichkeit vermied ich es sowieso, ihn zu zeigen. Ich meine, früher, vor ein paar Wochen, hätte ich damit noch viel weniger ein Problem mit gehabt - schließlich war da jedes einzelne Wort fiktiv gewesen - jetzt sah die ganze Sache aber komplett anders aus. Was da stand, war wahr. Wieso auch immer. Und jeder, der es lesen würde, würde unmissverständlich die Parallelen zur wirklichen Welt erkennen.

Die Parallelen zu Álvaro.

Wobei die beiden Linien in dem Fall nicht nur parallel waren, sondern auch indetisch. Deckungsgleich. Sprich, sie lagen aufeinander. Mathematik lässt grüßen.

»Pass aber bitte auf, falls jemand kommt«, bat ich unruhig und verfluchte die paranoide Stimme in meinem Kopf. Ein Teufelchen war nichts dagegen.

»Ja, natürlich, mach dir keine Sorgen«, beruhigte Logan mich und musterte mich mit seinen gletscherblauen Augen. »Mach dir keine Sorgen. Ash ist mit Shira beschäftig, Gael gibt Marie Nachhilfe und kommt damit erst in einer Weile, und Jean ist hier irgendwo auf Beutejagd.«

Seelenschreiberin (Doppelband)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt