Die Leiche wurde am 18.02.2019 in der Nähe der Themse gefunden. An diesen besonderen Tag sanken die Temperaturen seit langer Zeit wieder unter den Nullpunkt, die graue Wolkendecke schwebte gefährlich über den Köpfen der Menschen und der Regen plätscherte unachtsam auf den grauen Asphalt.
Die Spezies Mensch war schon immer neugierig und hatten sie an diesen Tag zuvor keinen Grund ihr Haus zu verlassen, so gab es jetzt definitiv einen.Es war wirklich kein schöner Tag um zu sterben.
Ebenfalls war es kein schöner Tag, um die sterbliche Hülle eines nackten Mädchens zu finden.
Aber irgendjemanden musste nun mal über sie stolpern und als es passierte, entstand ein Fegefeuer aus Gerüchten, Erzählungen, Mutmaßungen und Lügen.
Seine Hände dagegen wollten nicht aufhören zu zittern. Sie vertrauten seinen Befehlen nicht mehr, verstießen gegen jede körperliche Reaktion.
Es waren genau 20 Stunden, 23 Minuten und 12 Sekunden vergangen. 1223 Minuten in denen er kaum noch Luft bekam. 73392 Sekunden in denen er die Schuld schwer auf seinen Schultern spürte. Er guckte immer wieder über seine Schulter, um zu sehen, ob jemand ihn beobachtete. Ob jemand die Schweißperlen auf seiner Stirn bemerkte, jemand das Rot in seinen Augen.
Aber weder hier, in einer zu vollen Kneipe, mit viel zu vollen Menschen, noch auf der Arbeit hatte ihn jemand mit irgendwas in Verbindung gebracht. Niemand wusste, dass ihr Blut an seinen Händen klebte, ihre DNA unter seinen Fingerkuppen angesammelt war.Er schielte leicht zu dem stumm geschalteten Fernseher, auf dessen Bildfläche immer noch eine Reporterin vor dem Tatort stand. Ein kleines bisschen Stolz keimte in ihn auf, schließlich berichteten die Nachrichten seit 17 Stunden über nichts anderes mehr. Drei Stunden hatte es gedauert, bis jemand die Leiche sah, bis man ihren Körper in einer kleinen Seitengasse, gefährlich nah am braunen Wasser, fand. Die Zeit war quälend für ihn gewesen, schließlich wollte er sie niemals so lange allein in der Dunkelheit lassen. Irgendwann mal hatte er ihr versprochen, dass er immer auf sie aufpassen würde, sie in jeder Situation beschützen würde. Und dennoch, für ihn bedeuten ihre letzten Atemzüge die letzten Momente ihrer Liebe. Nein, wenn er so richtig darüber nachdachte, hatte er schon viel früher nichts mehr für sie empfunden.
Er erwischte sich dabei, wie er wieder anfing an seinen Nägeln zu kauen. Eine nervige Angewohnheit. Aber jetzt war sie nicht mehr da, um ihn davon abzuhalten, um ihn tadelnd mit den tiefblauen Augen anzuschauen. Jetzt hatte all das keine Bedeutung mehr. Jetzt konnte er wieder von vorne anfangen. Seufzend leerte er sein Bier und bestellte sich beim Wirt gleich ein neues. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass sein Freund überrascht aufguckte, schließlich trank er nie so viel, wenn er am nächsten Tag arbeiten musste. Aber heute war eine Ausnahme, der Versuchung nach dem Alkohol konnte er heute nicht standhalten.
War er glücklich oder traurig? Irgendetwas dazwischen?
Eigentlich war er nur erleichtert. Erleichtert, dass er ihr die Erlösung brachte, dass er sein Katz- und Mausspiel beginnen konnte, dass er endlich seinen Fokus auf sie richten konnte. Er wollte sie, wie er nichts in seinen Leben jemals wollte. Allein der Gedanke an ihre fast grauen Augen, der Ausdruck in ihrem Gesicht, die Art und Weise wie ihre Haare glatt über die hellen Schultern fielen, es brachte ihn um den Verstand.
Und wenn er für sie wortwörtlich über Leichen gehen musste, dann würde er es tun. Auch wenn er Angst hatte, dafür hinter Gitter gehen zu müssen. Aber das würde nicht passieren, dafür war er zu vorsichtig, zu vorbereitet.
Wieder huschten seine Augen zu dem Flachbildfernseher. Die Anzahl der Schaulustigen hatte abgenommen, in ein paar Stunden würden sie zum nächsten Skandal weiterwandern. Nur er, er würde sich noch Wochen und Wochen mit diesem Mord beschäftigen.
Ein kleines schmallippiges Lächeln erschien auf seinem sonst so schönen Gesicht. Es ließ ihn wie eine Raubkatze aussehen, wie das gefährlichste Wesen auf diesen Planeten. Tatsächlich hatte er seinen Plan durchgezogen, in manchen Momenten konnte er es nicht begreifen.„Vielleicht sollten wir uns langsam auf den Heimweg machen."
Innerlich ärgerte er sich über die Unterbrechung seiner Gedanken, er wollte nur in Ruhe gelassen werden. Dennoch nickte er seinen Kollegen zu und zog sich langsam seine Jacke an. Seine Geldscheine wurden auf den Tresen geschmissen und mit seiner tiefen Stimme, die sie so geliebt hatte, aber jetzt nie wieder hören würde, teilte er den Kellner mit, dass der Betrag so stimmte. Es war zu viel Trinkgeld, das wusste er, aber er war für seine Großzügigkeit bekannt und wenn er so genau darüber nachdachte, war das auch seine einzige positive Eigenschaft.
Vielleicht würden seine Freunde ihn noch als besonders fair und gerecht beschreiben, aber er war sich nicht so sicher, ob man den Mord eines unschuldigen Mädchens als besonders gerecht betiteln konnte.
Ein aller letztes Mal wagte er einen Blick auf die windzerzausten Haare der Reporterin. Er vergaß die Konturen ihres Gesichtes, sobald er an die frische Luft trat. Tief atmete er ein. Morgen würden die Spiele beginnen.
Ab morgen würde er ihren Verstand manipulieren, sie auf seine Seite ziehen. Er war bereit, doch die Frage war, ob sie es ebenso war?
DU LIEST GERADE
Wenn die Toten schreien
Teen FictionFür ihn gab es weder eine rationale noch eine logische Erklärung, wenn es um sie ging. Es war als ob sie die dunkelsten Seiten seiner Seele neu schrieb, sie ganz nach ihrem eigenen Verlangen verfasste, ohne Rücksicht auf seine Gefühle. Er hatte sie...