Schuld

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Loki träumte. Zumindest musste es ein Traum sein, denn da er keine Magie mehr besass, war es ja ansonsten unmöglich, dass er sich gerade ausserhalb seines Körpers befand. Dass er auf sich selbst herabsah, wie er da in diesem seltsamen Glaskasten lag, als wäre es ein Fremder, den er betrachtete. Dass sich alles plötzlich seltsam leicht anfühlte, dass die Schmerzen nur noch einer nebelhaften Erinnerung glichen... Es konnte auch nur in einem Traum geschehen, dass er auf einmal emporgehoben und weggetragen wurde, nur um sich dann auf der Terrasse des Stark Towers wiederzufinden. Ganz flüchtig spürte er Verwirrung, doch dann wurde das Bild klarer, und er sah sich selbst in voller Rüstung dastehen. Sah sich auf New York hinunterblicken, in jenem Moment, als die Attacke auf die Stadt begann. Und eine Sekunde lang spürte er dasselbe Triumphgefühl, das er damals, in diesem Augenblick, empfunden hatte. Doch es verschwand sofort, als er das Zischen unzähliger Chitauri-Flugobjekte hörte, die an ihm vorbeirauschten und die Stadt beschossen.

Hätte er es gekonnt, hätte er sich wohl die Augen gerieben. Ja, das musste ein Traum sein...

Aber warum wirkte dann alles so furchtbar echt, als würde es gerade in diesem Moment geschehen? Und warum befand er sich auf einmal nicht mehr auf dem Stark Tower, sondern mitten unter den schreienden, völlig verzweifelten Menschen? Warum war er plötzlich einer von ihnen, rannte um sein Leben genau wie sie und wusste in seiner Panik nicht, ob er nach rechts oder links ausweichen sollte? Suchte in haltloser Verwirrung nach einem Unterschlupf, einer Möglichkeit, den tödlichen Laserstrahlen dieser unheimlichen Ausserirdischen zu entgehen? Und wenn es ein Traum war: warum fühlte er die Angst dieser Leute, als wäre es seine eigene? Warum sah er das ganze Inferno plötzlich durch ihre Augen?

Ein kleines Mädchen stand auf einmal vor ihm - wie aus dem Nichts erschienen - und starrte ihn an. Fragend, vorwurfsvoll, klagend... Loki hätte beinahe nach Luft geschnappt. Dieser Blick! Er frass sich direkt in sein Gehirn wie ein Dolchstoss. Doch als er die Hand nach dem Kind ausstreckte, verschwand es vor seinen Augen. Löste sich in Nichts auf, als habe es niemals existiert. Und doch blieb etwas zurück: Schmerz. Ein allumfassender, nicht nur körperlicher Schmerz, der das kleine Mädchen völlig umfangen gehabt hatte...

Auf einmal fühlte Loki noch einen ganz anderen, genauso intensiven Schmerz. Ihm war, als würde er auseinander gerissen, als würde er buchstäblich in seine Einzelteile vergehen. Er sah an sich hinunter, doch er war unversehrt. Als er die Augen wieder hob, erkannte er entsetzt, dass dies allerdings nicht für den Mann vor ihm galt. Den rund fünfzigjähren Mann, der soeben von einer Chitauri-Laserwaffe getroffen worden war und innert Sekunden zu einem Häufchen Staub zerglühte. Loki keuchte. Er wand sich und versuchte verzweifelt, diesem Alptraum zu entrinnen, aber er schaffte es nicht. Der Traum – wenn es denn einer war! – hielt ihn fest und zeigte ihm unbarmherzig seine Opfer... Alle seine Opfer. Zeigte ihm ihre Qualen, ihre Ängste, ihre Verzweiflung... und liess sie zu seinen eigenen werden.

Melinda Crave hatte es sich nicht nehmen lassen, bei Loki zu bleiben. Ganz egal, was Tony Stark gesagt hatte: sie wollte in der Nähe sein, falls sich sein Zustand irgendwie verändern sollte. In den letzten Stunden war er glücklicherweise sehr ruhig geblieben, und das seltsame Gemisch, das die Glaskapsel füllte, schien zumindest soweit zu wirken, dass es Lokis Schmerzen dämpfte. Das hoffte Melinda jedenfalls. Aber die Tatsache, dass er relativ ruhig dalag und sich sein Gesicht nur noch selten schmerzhaft verzog, liess sie das nicht ohne Grund hoffen.

Da sie jetzt alleine mit ihm war, hatte sie ausreichend Zeit, Loki zu betrachten. Und ob sie es wollte oder nicht: sie konnte ihren Blick nicht von ihm lösen. Wenn er so still dalag, sah er nicht nur immer noch unglaublich faszinierend, sondern vor allem auch auf eine Weise harmlos aus, wie man es bei jemandem wie ihm niemals vermutet hätte. Sein Gesicht war zwar immer noch leicht bläulich verfärbt, aber das verlieh den markanten und doch gleichzeitig sanften Zügen, die von den schulterlangen Haaren wie von einem schwarzen Schleier umrahmt wurden, etwas beinahe Engelhaftes. Melinda merkte gar nicht mehr, wie sie in diesem Anblick versank. Erst als ihre Augen auf Lokis Lippen haften blieben und sie sich lebhaft – und mit einem angenehmen Schauer, der ihr durch und durch ging – an den Kuss erinnerte, schreckte sie hoch...

Loki: The Dark Prince - Der dunkle PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt