Zeit

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Ich rannte und rannte. Meine Beine waren leicht, leer sozusagen. Ich sprang und kletterte. Und manchmal lief ich mit dem Kopf wogegen. Ich schüttelte mich kurz, es rasselte und dann ging es weiter. Ich ging schlafen und wachte auf. Ich aß und ging auf die Toilette. Ich weinte und ich lachte. Ich fiel hin und stand wieder auf. Einfach, weil es das Richtige war. Doch langsam, ganz langsam wurde es anders. Mit jeder ausgepusteten Geburtstagskerze ein Stückchen mehr. Irgendetwas verlagerte sich.

Ich saß im Unterricht und hörte zu. Ich saß im Unterricht und schlief ein. Ich schüttelte mich kurz, es rasselte und dann hörte ich wieder zu. Etwas fiel in mir. Langsam. Während ich da so saß. Ohne viele Gedanken, mit dem einen oder anderen Plan im Kopf. Was ich mal werden möchte und sowas. Mathe, Bio, Deutsch. Ich hörte zu und ich machte Quatsch. Ich lernte einige Dinge. Der Kopf bekam ein kleines bisschen Raum. Was würde ich heute machen, nach der Schule? Diese Frage war irgendwie wichtiger.

In meiner Klasse war ein Mädchen, das ich mochte. Wir haben immer wieder ein wenig gesprochen. Ich mochte ihre Haarfarbe. Ich mochte ihren Mund. Einmal sind wir zusammen über den Pausenhof gegangen. Ich wollte sie küssen und sie drehte sich weg. Ich schüttelte mich kurz, es rasselte und dann ging sie weiter. Ich blieb noch etwas stehen und schaute ihr nach. Irgendetwas verging und irgendetwas entstand. Das fühlte sich nicht gut an. Ein paar Tage waren meine Füße wie Sandsäcke. Ihre Haarfarbe mochte ich immernoch.

Ich ging laufen. Ich lief und atmete schwer. Es war nicht das unkontrollierte Rennen von früher, hin und her. Ich lief eine gleichmäßige Runde. Meistens war ich auf meinen Körper konzentriert. Darauf, die schweren Beine zu heben und den Atem einzufangen. Manchmal schaute ich hoch und sah die Bäume und den Himmel. Im Kopf war dann etwas mehr Raum. Etwas flog und etwas fiel. Wenn ich nach Hause kam, schüttete ich ein paar Steinchen und etwas Sand aus den Schuhen. Ich schüttelte mich, es rasselte und dann ging ich duschen.

Ich ging zur Arbeit. Jeden Monat fiel es mir etwas schwerer. Ganz besonders morgens. Wenn ich aufwachte, war der Stress schon munter und aktiv. Ich wollte nicht aufstehen. Ich wollte liegen bleiben, weiter schlafen und vergessen. Irgendwann aber gab ich mir jedes Mal einen Ruck. Ich schüttelte mich kurz, es rasselte und dann drehte ich mich aus dem Bett. Danach war es meistens schon etwas besser. Jeden Tag aber, so um die Mittagspause, merkte ich, dass meine Beine schwerer wurden. Am Abend waren sie voll. Ich machte mich auf den Weg nach Hause.

Manchmal machte ich Urlaub. Dann konnte ich etwas Abstand zur Arbeit bekommen. Konnte nochmal ein wenig in mich hinein horchen. Dann hörte ich es deutlicher. Ein sanftes Rauschen, könnte man sagen. Einen Sog nach unten. Meistens empfand ich das als unangenehm. Jetzt war es irgendwie beruhigend. Ich ging spazieren, setzte mich auf eine Bank. Ich schaute auf das Wasser und kam zur Ruhe. Ich fand etwas Sand in meiner Hosentasche. Ich atmete tief durch.

Es gab viel Raum und Klarheit. Gleichzeitig aber fühlte ich mich, als habe man mir Ballast an die Hüfte geschnürt. Ein Heißluftballoon, der nicht mehr fliegen sollte. Ich arbeitete auch nicht mehr. Morgens stand ich früh auf. Dann, wenn es draußen gerade anfing hell zu werden. Einfach, weil es das Richtige war. Ich unterhielt mich viel mit Leuten, wenn welche da waren. Ansonsten ging ich kleine Runden in die Stadt oder in den Park. Das fiel mir oft nicht leicht. Den Ballast wurde ich nicht los und die Muskeln ließen nach.

Ich saß in meinem Sessel. Ich saß nun fast immer. Mein gesamtes Gewicht schien in den Füßen und Beinen zu sein. Deshalb freute ich mich, wenn man mich besuchen kam. Ein wenig reden. Ich hatte viel Zeit, da war viel Raum. Manchmal dachte ich über früher nach. Und dann fragte ich mich, warum ich mich so viel gesorgt hatte. Es war doch alles in Ordnung. Es war doch so, wie es sein musste. Das sah ich aber erst jetzt. Jetzt, wo alles herunter gerieselt war. Das ließ sich nicht ändern, so war der Lauf der Zeit nun mal. Als Jugendlicher wollte ich alles verstehen. Aber es war eben noch nicht genug Raum. Nun wäre ich gerne mehr gelaufen. Aber es war inzwischen zu viel herabgesunken. Ich sah die jungen Menschen und die Erwachsenen. Alle wollten etwas, für das die Zeit noch nicht gekommen oder wofür sie schon vorbei war. Überall hörte ich das leise Rasseln. Die kleinen Kinder im Hof mit Ball. Die Dame und ihr Hund. Die Familie auf dem Feldweg. Alle rasselten vor sich hin. Ruhig und unaufhaltsam. Einfach, weil es das Richtige war. Und ich schüttelte mich kurz.

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