Kapitel 1

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Ich kann nicht mehr. Warum ist es manchmal so unfair? Ich kann es mir nicht mehr länger mit anschauen. Uf.  Ich hatte Tränen in den Augen und rannte durch die Menschenmenge. Endlich raus da. Zum Glück waren meine Mama und mein Onkel schon vor mir nach Hause gegangen und bekamen nichts davon mit, dass es mir schlecht ging. Es war der 28. Juni 2018, der Tag an dem ich die Schule verließ. Alle Schülerinnen der zehnten Klassen waren um 15 Uhr erst im Dom, anschließend in der Aula und den Abend ließen wir im Schützenhaus ausklingen. Es war sowieso schon nicht einfach, weil ich eigentlich schon an diese Schule hing und ich mich mit manchen Lehrerinnen und Lehrern echt gut verstehe und ich das alles sozusagen zurücklassen musste. Ich hatte sogar meiner Lieblingslehrerin etwas geschenkt und sie freute sich so sehr, dass sie fast zu weinen anfing und sie bat mich darum, dass ich sie aufjeden Fall besuchen kommen sollte und wir unseren Geburtstag zusammen feiern würden. Danach umarmte sie mich ganz feste und sagte mir auch noch, dass sie meine selbstgestrickten Socken jeden Abend trägt und mich dadurch niemals vergessen wird. Sie ist einfach einer der wenigsten Menschen, die die kleinen Dinge sehr schätzt. Ich werde sie riesig vermissen. Aber das war noch nicht alles...                                                                                                                                                                                     Als wir im Schützenhaus ankamen, war es nicht einfach für mich diese ganzen glücklichen Familien zu sehen. Alle sahen so verdammt glücklich aus und saßen dort mit ihren Müttern, Vätern,Tanten, Onkel oder ihrem Freund. Bei diesem Anblick musste ich mich echt schon zusammenreißen. Ich meine ich gönne jedem Mädchen ihr Glück, aber es ist sehr schwierig für mich so etwas anzusehen.

Im Laufe des Abends vergaß ich die traurigen Dinge, ließ es mir gut gehen, gönnte mir leckeres Essen und verbrachte die letzten Stunden mit meinen Freundinnen. Dann bat ein Lehrer um Ruhe und schlug sanft mit seinem Messer gegen ein Sektglas, damit es leiser wurde. 

„Ich eröffne jetzt die Tanzfläche für den Vater-Tochter-Tanz.", sagte er.

 Meine Augen wurden glasig und ich sah schwarz. Eine kleine Träne kullerte mir über die Wange. Manche Menschen können es vielleicht nicht nachvollziehen, warum ich so derart emotional reagierte, aber hinter jeder Träne verbirgt sich eine Geschichte. Ich nahm das so emotional auf, weil mein biologischer Vater und Mutter an diesem großen Tag nicht bei mir sein konnten.
Mein Problem war einfach, dass meine biologischen Eltern nicht da waren und verarbeitet hatte ich es auch nie richtig. Es war eine Qual für mich die anderen so glücklich mit ihren Vätern tanzen zu sehen. Es brach mir irgendwo das Herz. Ich, als gefühlt einzige saß alleine dort, während die anderen Mädchen glücklich tanzten. Ich konnte es mir nicht ansehen. Ich war schon mit dem Gedanken am spielen mich zu betrinken, damit ich das alles viel lockerer sehe und den Abend genießen konnte. Einen kurzen Moment dachte ich nach, aber es wäre nicht der richtige Weg gewesen, sich zu betrinken. Meine Entscheidung war, mich draußen etwas zu beruhigen und ein wenig herunterzufahren.
Ich schraffte mein Kleid etwas hoch, drängelte mich durch die Menschenmenge und ging in einem schnellen Tempo nach draußen, damit nicht jeder mitbekam, dass ich am flämmen war. Draußen auf der Terrasse entdeckte ich eine ganz verlassene Bank und setzte mich. Man konnte die Musik, die im Saal abgespielt wurde bis nach draußen hören und natürlich auch das Jubeln und Klatschen der vielen Gäste. Was soll ich denn jetzt machen? Wieder da rein gehen? Nein, das zerstört mich nur und ich will den anderen den Abend nicht vermiesen. Mit wem kann ich denn jetzt reden? Ich hätte mich ja gerne meiner Vertrauenslehrerin anvertraut, aber sie ist leider nicht da. Zu meinen Freundinnen will ich auch nicht gehen, weil ich denen den Abend nicht kaputt machen will und  sie nicht belasten will. Ich fühle mich gerade so alleine...
Auf einmal kommt ein Kellner vorbei und sieht, dass es mir nicht gut geht. Er fragte, ob es mir gut geht, weil er meine Tränen sah. Ich sagte,dass es mir bestens geht, jedoch merkte er, dass es gelogen war und er hakte nach, warum ich ganz alleine in dieser verlassenen Ecke saß. 

„Weil es mir nicht gut geht.", sagte ich ihm. 

„Warum weinst du? Hat dir jemand etwas getan?",fragte er mich. 

Ich versicherte ihm, dass niemand mir etwas getan hatte. Außerdem erzählte ich ihm davon, dass ich mir diesen Anblick nicht antun konnte, als jedes Mädchen mit ihrem Vater beziehungsweise Freund tanzte. 

„Warum?", fragte er. 

„Meine Eltern sind schon eine lange Zeit nicht mehr bei mir und dies nimmt mich richtig mit. Ich hätte mir so gerne gewünscht, dass sie auch bei meinem Abschluss dabei gewesen wären. Aber das wird immer ein Wunsch oder Traum bleiben. Der andere Grund ist, dass ich mich gerade frisch von meinem Freund getrennt habe."

 
Ich brach in Tränen aus und bekam einen Heulanfall. Ich war nicht ansprechbar und sehr am zittern. Der Kellner wollte mich trösten, aber in dem Moment konnte mich Niemand beruhigen. Er nahm mich in den Arm und sagte einem Gast, dass hier eine Lehrerin benötigt wurde. Die Lehrkraft kam zu mir, redete mit mir, aber ich gab keine Antwort. Nach ungefähr einer halben Stunde ließ ich mit mir reden. Ich wollte nämlich mit meiner Vertrauenslehrerin sprechen. Sie rief meine Vertrauensperson an, jedoch ging sie nicht dran, da es schon sehr spät war, aber es wurde mir versprochen, dass ich morgen zur Schule kommen darf und dass ich dann mit ihr reden kann.
Oh man, ich hoffe, dass meine Mama nicht darüber informiert wird, weil es sonst großen Ärger Zuhause gibt und das kann ich gerade gar nicht gebrauchen. Der Kellner fragte mich, ob ich nach Hause wolle und ich bejahte seine Frage. Ich war fertig mit der Welt und meine Nerven waren auch am Ende.
Die Autofahrt war zum Glück nicht allzu lang und als ich die Wohnung betrat tat ich so als wäre ich voll müde, damit bloß niemand merkte, dass es mir schlecht ging und huschte schnell in mein Zimmer. Ich zog mein Kleid aus und schlüpfte in meinen Pyjama. Anschließend putzte ich meine Zähne und befreite mich von der Schminke in meinem Gesicht. Meine Hautfarbe unter der Schminke war sehr blass, weil wenn ich Stress habe, dann sieht man mir das sofort an und meine Haut leidet sofort darunter.

Im Spiegel sah ich nur noch ein Kunstwerk. Meine Narben und Wunden sah man zwar nicht auf der Haut, aber könnte man meine Seele sehen, dann würde man nur noch Narben, Blut und Verletzungen sehen. Man will es im ersten Moment nicht wahr haben, wenn man realisiert, dass die Seele von anderen Menschen zerstört wurde. Es werden nämlich zum Teil nur körperliche Krankheiten in den Fokus gestellt und die psychischen Störungen in den Hintergrund gestellt. Das Kunstwerk, was ich heute bin besteht aus vielen Ereignissen, die ich erlebt habe und nicht verarbeiten konnte. Manche haben Wunden hinterlassen, aber auch manche haben meine Wunden zu Narben gemacht und sie versucht zu heilen. Manchmal bin ich echt glücklich darüber, dass es Schminke gibt. Danach legte ich mich hin und versuchte zu schlafen. Ich schlief jedoch nicht ohne Tränen ein.

Verloren? - Welcome to my truthWo Geschichten leben. Entdecke jetzt