„Mutter? Kannst du mir nicht noch einmal die Sage von Pierre Narbenfresse erzählen?", fragte Pierre. Er hatte die Sage seines Namensvetters schon immer gerne gemocht.
„Wirklich? Ich habe sie dir bestimmt schon hunderte Male erzählt...", antwortete diese und setzte sich an das Bett ihres Sohnes.
„Bitte!" Der kleine Junge sah seine Mutter bittend an und schaffte es so, sie zu erweichen. „Na gut. Aber du bist auch ganz still, ja?
Pierre wuchs in einem kleinen Dorf in Nordfrankreich auf, abgeschottet von der restlichen Welt und wohlbehütet von seiner Familie. Dort war er bekannt für sein rebellisches und kämpferisches Wesen, das ihm oft Schlägereien einbrachte. Aber er wollte es endlich über die großen Berge, die das Tal begrenzten, schaffen und etwas von der Welt sehen. Nie hätte er gedacht, wie grausam das Schicksal seinen Wunsch erfüllen würde.
Als Pierres Leben gerade 14 Sommer zählte, überfiel ein grausamer, schwarzer Drache das kleine Dorf, zerstörte es und riss alle Menschen als seine Opfer. Nur einer überlebte - nach einem Tag Bewusstlosigkeit erwachte Pierre, und sah sein bisheriges Leben in Trümmern liegen, seine Familie und Freunde getötet oder verschleppt. Sein ganzes Leben lang würde er von der schwarzen Narbe, die sein Gesicht durchzog und den Schrecken, die er durchlebt haben musste, gezeichnet sein."
„Der arme Junge", sagte Pierre und schaute seine Mutter aufmerksam an. Er wusste schon, wie sie antworten würde.
„Er muss ein großer Held gewesen sein, wenn er trotzdem nie aufgegeben hat." Pierre nickte und lauschte weiter ihrer Geschichte.
„Entkräftet und fast verhungert wurde er schließlich von einem Reiter gefunden, der nach Überlebenden suchte. Dieser brachte ihn ins Nachbardorf, dessen Bewohner sehr von seinem Schicksal berührt waren und ihm ein Bett und Essen gaben. Er genas schnell, denn er brannte darauf, Rache zu nehmen, an dem Mörder - dem Drachen.
Um seine Suche zu beginnen, trat er die Reise nach Paris an, der nächst größten Stadt."
„Da wohnen wir doch auch!", sagte Pierre aufgeregt. „War er wirklich hier?"
Seine Mutter nickte. „Wenn du genug Leute fragst, können sie dir bestimmt noch mehr von ihm erzählen. Doch jetzt höre!
Auch dort wurde voller Furcht von einem schwarzen Drachen erzählt, doch kam er mit seinen Erkundigungen nicht weit, da die Leute ihn wegen seiner Narbe misstrauten. Bei seiner ersten Kneipenprügelei wurde er von einem Mitglied der ansässigen Gilde mercenaires de loups (wörtlich: Söldner der Wölfe) entdeckt und zu ihrem Quartier gebracht. Dort wurde er ausgebildet und schon bald übertrumpfte er durch seine Verbissenheit und seinen Ehrgeiz die anderen Schüler. Doch bei seinem ersten Auftrag fehlte ihm - wie man sagt - der Mumm und er verzichtete darauf, seinem Opfer einen Pfeil ins Herz zu schießen. Den nächsten Tag verließ er die mercenaire de loups (was diesen, wie man sich vorstellen kann, gar nicht gefiel!) und suchte sein Glück auf den Straßen.
Sein Geld verdiente er schließlich als Seiltänzer, was er mit einer Maske erledigen musste, um kein Misstrauen zu erregen.
Eines Tages befand sich Amandine, die schöne Tochter eines reichen Kaufmanns unter den Schaulustigen und sie faszinierte Pierre so sehr, dass er ihr und ihrem Begleiter nach Hause folgte. Er warb als Seiltänzer um ihre Aufmerksamkeit, doch wusste er von ihrem Verlobten, der sie niemals aus seinen Augen ließ und so ihr Zusammensein unmöglich machte. Jedoch hielt Pierre seine Gepflogenheit bei, auf ihrem Heimweg über sie zu wachen, was sich auszahlte. Als eine ehrlose Räuberbande Amandines Verlobten niederschlug, war Pierre zur Stelle, um sie zu beschützen. Die Gerettete aber erschrak, als sie sah, wie Pierre alleine sechs Räuber niederschlug und sie fürchtete sich vor der monströsen Narbe. Statt Dankbarkeit zu zeigen, rannte sie fort und ließ ihren fassungslosen Verehrer zurück."
„Das muss furchtbar gewesen sein. Er hat sie geliebt, nicht?"
Seine Mutter antwortete nicht, und legte stattdessen einen Finger auf die Lippen.
„Mutlos irrte Pierre allein in der Stadt umher und fand sich schließlich in einer zwielichtigen Kneipe wieder. Dort traf er einen Wanderer, der behauptete, dem schwarzen Drachen, nur wenige Tagesreisen von hier begegnet zu sein. Pierre ließ sich den Weg beschreiben und trotz vieler Warnungen, machte er sich noch am selben Tag auf den Weg. Er schwor sich, entweder erst zurückzukehren, wenn der schwarze Drache tot war, oder gar nicht. Weiterhin hatte er die Hoffnung, von Amandine respektiert zu werden, wenn er als Drachentöter in die Stadt einzog.
So trat er zu Fuß den beschwerlichen Weg über Schluchten und Berge zu der Höhle des Drachen an.
Dort kam er an, entkräftet, doch entschlossen und wartete geduldig, bis der Morgen kam. Zu überraschen den Drachen im Schlaf, war sein Ziel. Als Waffe diente ihm einzig ein schartiges Schwert, doch die Hände, die es führen würden, kannten keine Gnade. Er würde nicht weiterleben müssen, wenn er sich an dem Ungeheuer gerächt hatte, dass sein Leben zerstört hatte. Und so ging er furchtlos in die nachtschwarze Höhle, ungeachtet des gräulichen Wesens, dass ihn erwartete.
In der Höhle war es so dunkel, dass man nicht einmal die Hand vor Augen erkennen konnte. Doch der laute Atem des Drachen genügte, um Pierre seinen Weg zu weisen. So ging er mit vorsichtigen, lautlosen Schritten auf den schlafenden Drachen zu und stach ihm eins seiner selbst im Schlaf wachsamen Augen aus.
Mit einem Brüllen, das noch bis nach Paris hörbar war, erwachte das Ungeheuer mit dem Wunsch Pierre seine Fänge in den Körper zu rammen und sein Blut zu schmecken. Dazu ließ Pierre es vorerst nicht kommen und wich aus. Nur mit Mühe entkam er einer Kralle und der blutige Kampf um Leben und Tod begann.
In diesem Kampf war es nur Pierres Mut und unstillbarer Rachedurst, die es ihm ermöglichten, das Ungeheuer schließlich zu töten. Noch in seinen letzten Atemzügen jedoch, grub sich einer der Fänge in Pierres Bein und das Gift gelangte in sein Blut. Es war ein Gift, dass immer zum Tod führte, und das einzige was er noch schaffte, war zum Höhlenausgang zu gelangen, damit er sich ein letztes Mal an der Sonne erfreuen konnte.
Das Gift fraß sich weiter durch seinen Leib und so wurde er ein paar Tage später gefunden, während er im Sterben lag. Als die Menschen sahen, was er getan hatte, gaben sie ihm das wohlverdiente Ehrengeleit zurück in die Stadt. Auch Amandine, entdeckte ihn und sah ihn nun als den Helden an, der er wirklich war. Pierre fand Frieden, bevor er in ihren Armen starb.
Amandine, die ihn abgewiesen hatte, bereute dies auf ewig und versuchte die Schuld zurückzuzahlen, indem sie seine Geschichte überall verbreitete und sicherstellte, dass seine Heldentaten niemals in Vergessenheit gerieten."
Die Sage war zuende. „Warum musste er sterben?", fragte Pierre seine Mutter. „Was hat er falsch gemacht?"
Seine Mutter lächelte traurig und deckte ihren Sohn zu. „Amandine wird ihn niemals vergessen." Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und wünschte eine gute Nacht.
Pierres Mutter verließ den Raum und legte sich nun selbst ebenfalls ins Bett. Es stimmte. Sie würde Pierre, den Helden, niemals vergessen. Ihr Sohn würde seinen Namen in Ehren tragen.
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Die Saga von Pierre Narbenfresse
Short StoryDies ist die Geschichte eines Jungen, der wegen einer schrecklichen Katastrophe für immer gezeichnet hat und nur Verachtung erfährt. Nachdem er als einziger die Zerstörung seines Dorfes überlebt, muss er sich allein herumschlagen. Dabei verliebt er...