Ein Schrittchen zu weit

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Es war viel zu spät für mich und mein Körper sendete mir entrüstet eindeutige Warnsignale des absoluten Stillstands zu. Und doch entschied ich mich nicht auf die Vernunft zu hören, mich nun einfach in Lauras Bett zu kauern, sondern mir stattdessen um 22:15 Uhr nachts noch die viel zu großen Highheels von Lauras Schwester anzuziehen und das ausgehgeeigneteste Outfit aus Lauras Kleiderschrank zusammen zu würfeln. Ihr Kleiderschrank war wie die Kinderarmut in Afrika: Eine blanke Katastrophe. Was einst wohl mal ein, nach Kleiderart sortierter Inhalt war, war nun ein riesiger Haufen Müll. Inmitten von Glizertangas kamen mir grüne Söckchen und zerfetzte Jogginghose entgegen. Der Zustand der sich mir eröffnete war in etwa so wie eine alte Holrzurne die in einem brennenden Haus Flammen fing: Nicht mehr zu retten. Laura zog aus dem Haufen Kleidung ein rotes Cocktailkleid hervor und verpasste mir den wohl grausamsten Eyelinerstrich den die Welt je zu Gesicht bekommen hatte. Ein Blick in den Spiegel genügte um festzustellen, dass ich mit dieser Aufmache vielmehr einer brasilianischen Edelprostituierte ähnelte, als einem schüchternem 13 jahrigem Mädchen das mitten in einer Selbstfindungsphase steckte. „Und du meinst im Ernst, dass ich so als 18 durchgehe?", fragte ich kritisch dreinblickend und musterte Laura. Sie war gerade dabei sich in ein blaues Ballkleid zu quetschen und hielt die Luft an, damit ihr nicht vorhandener Busen noch in das obere Register des Kleides passte. Ich lies mir bei diesem Anblick nicht den Kommentar :,,Adipöse Blattschneiderameise in Cocon eines entrissenen Falters festsitzend" entgehen und kicherte noch vor mich hin, als ich einen recht unsanften Tritt in meine vier Buchstaben zu spüren bekam. Das hatte ich definitiv verdient, daher nahm ich es hin, ohne einen Laut der Beschwerde. Schließlich riss sie mich mit sich, die Treppe zum Flur hinab und schubste mich aus der Haustüre hinaus.

Mitternacht. Gefühlt. Um genau zu sein 23 Uhr. Wir hatten die Bahn verpasst und saßen daher eine halbe Stunde am Bahnhof fest - zitternd. Und ja, es war kalt. Eiskalt. Und wieder fragte ich mich was mich nur dazu getrieben hatte diesem hirnrissigen Mädchen zu folgen. Mich um diese Uhrzeit auf die Socken zu machen und zu versuchen mich in einen Club reinzuschmuggeln, in den ich ja doch nicht reinkam. Zumindest deutete einiges darauf hin, wie etwa der Spruch eines betrunkenen Teenagers der mit seinem Kumpel auf einem Egotrip unterwegs war und lachend lallte: „Na? Hat Mammi vergessen ihr Schminketuille abzuschließen?" Was auch immer sie gesoffen hatten, ich brauchte unbedingt auch einen deftigen Schluck davon. Eigentlich war ich ja chronische Antialkoholikerin, aber in jenem Moment war mir alles lieb was mich irgendwie wärmte, wie etwa ein...hach... warmes Bett oder eine... heiße Schokolade....

„Jaja ist guuut, jetzt reg dich nicht so auf!", sprach Laura genervt und drückte ihre besorgte Schwester am Telefon weg. Aufgesetzt sagte sie zu mir in einem gleichgültigem Ton:„Sie lässt ihre Autorität raushängen. Pfff die kann mich mal! Ich sage Mom und Dad einfach, dass sie mit Jeremy rumvögelt, wenn sie uns verpetzten sollte. Mach dir keine Sorgen Kleines!" Sie war bloß wenige Tage älter als ich und nannte mich Kleines. Warum? Dann checkte sie ihr Makeup im Handspiegel und schwang ihre Haare elegant nach hinten mit den euphorisch Worten :„Und nun auf auf! It's Partytime Mari!" Falsch grinsend schlenderte ich ihr hinterher, die Treppen hinab zur U-Bahn und ließ mich auf dem einzigen noch Kaugummifreien Sitz nieder. Angeekelt von dem mitfahrenden Gesocks das mich hier umgab, suchte ich unauffällig mein Pfefferspray in meiner viel zu kleinen Handtasche. Erstaunt darüber, dass ich es nicht finden konnte (ich war so ziemlich der panischste Mensch der Welt, was das anging) blickte ich unsicher um mich und schmiedete einen Plan, wie ich hier schnellst möglich rauskam, sollte etwas passieren. Laura, die scheinbar meine Gedanken zu lesen wusste, äußerte, mich belächelnd: „Keine Sorge Babe, in dem Outfit wagt sich eh niemand dich anzumachen!" Das war ja super. Warum zur Hölle trug ich dann diesen Fummel an meinem Körper? War es nicht schon genug, dass ich ständig in diesen Schuhen umknickte? „Das macht straffe Waden und einen deutlich erwachseneren Eindruck!", hörte ich Laura in meinem inneren Ohr sagen. Sie war es die mich ständig zu Dingen die mir letztendlich peinlich waren, überredet. Und ich liebte sie dafür.

Endstation München Hauptbahnhof. Alles stieg aus." Alles" war gut. Die 4 Mann, die aus welchen Gründen auch immer mit uns noch U-Bahn fuhren. Vermutlich hatten sie vergessen wo sie wohnten und waren den ganzen Tag im Kreis gefahren ohne zu wissen, wo sie aussteigen mussten. Den Eindruck machten jedenfalls ihre herunterhängenden Mundwinkel und ihre trüben Blicke. Wir huschten durch den Bahnhof, vorbei an, auf Mülltonnen herumhämmernden Obdachlosen und kiffenden Jugendlichen. Die Treppe hinauf und schon waren wir mitten in der hellwachen Innenstadt bei Mitternacht. Die funkelnden Lichter und die, aus allen Winkeln ertönenden Diskomusik löste in mir ein Gefühl der Unabhängigkeit aus. Ich fühlte mich frei, cool, losgelassen, auf eigenen Beinen stehend. „Wenn jemand fragen sollte: Du bist 18, machst gerade dein Abi und fühlst dich schnell diskriminiert wenn man dich auf deine Wachstumsstörung anspricht. Perso hast du daheim gelassen, da du es unerhört findest noch auf dein Alter angesprochen zu werden." Alles klar, dieses Mädchen sprach aus Erfahrung. „Du gehst vor, ich komme gleich nach." Was? Wie? Nein! Sie konnte mich doch jetzt nicht alleine lassen? Was machte ich wenn sie verschwand? Ich kannte doch niemanden? Und ein Handy hatte ich auch nicht dabei? Verdammt! Keine 5 Sekunden später befand ich mich vor dem Eingang in eine Disko, einen Mann in schwarzen Anzug gekleidet, breit angrinsend und piepend:,, Ich möchte rein!" Der Mann verzog keine Miene und musterte mich von oben nach unten. Mit einer lässigen Kopfbewegung signalisierte er mir, dass ich rein durfte. In jenem Moment fühlte ich mich als hätte ich gerade einen Marathonlauf gewonnen. Siegesgeheul uulullul!! Wofür auf eine Party gehen, wenn derzeit mehr Party in meinem Kopf los war. Ich blickte mich verwirrt um. Überall Menschen. So viel Rauch aus der Nebelmaschine, dass ich herumtrudelte wie eine Taube auf Meth. So laute Musik, dass ich nicht wusste ob die Leute miteinander sprachen oder lediglich ihre Mundwinkel im Takt auf und ab bewegten. So viele Lichter, dass ich nicht wusste, ob das hier ein Stresstest war oder tatsächlich einfach nur eine Disko. Es gelang mir nicht mal einen Schritt vor den anderen zu setzen. Zwischen all den Menschen wurde ich in eine freie Ecke gedrängt und konnte erstmal durchatmen und die ganzen Eindrücke verarbeiten.

,,Magste ne Cola Süße?", sprach ein Kerl, der sich mir tanzend näherte. Ich dankte kopfschüttelnd ab und nahm Ausschau nach Laura, die ich nun dringend brauchte. „Biste alleine hier?", fuhr er fort und lächelte mich machomäßig an. Ich schüttelte erneut den Kopf und wagte einen wagen Blick in seine Augen. Seine Pupillen waren riesig. Eindeutig bekifft und besoffen. Eindeutig ein Fall für Mister Propper und seine Söhne. Ich musste hier weg. Oder viel besser: Ich wollte hier weg. Der Kerl nickte mir charmant grinsend entgegen und kaum hatte ich es übersehen spürte ich wie seine kalte, ekelhaft Zunge in meinen Mund eintauchte. Es war wirklich wiederlich, zumal er viel älter und aufdringlich war. Wenn Laura das unter der Suche nach mir selbst verstand, dann hoffte ich mich niemals zu finden. „Okay das reicht!", hörte ich eine vertraute Stimme sagen. Dann zog mich eine Hand ruckartig nach hinten von dem Kerl weg. Dieser schaute nur verdattert drein und entfernte sich dann von uns. Laura blickte mir tief in meine erstarrten Augen und sprach:„Du gehst aber schnell ran! Mach den Mund wieder zu sonst läuft der ganze Sabber raus!" Ich stammelte rum und wollte mich rechtfertigen, aber ich brachte kein Wort raus. „War es wenigstens schön?", fragte mich Laura, die ja nun endlich aufgetaucht war - wenn auch 20 Sekunden zu spät. Ich drehte mich von ihr weg und nahm wahr wie mir in sekundenschnelle so übel wurde, dass ich mich in die hinter mir stehende Plastikpflanze übergab. Das war wohl ein eindeutiges Zeichen. Ein Schrittchen zu weit, wie Laura sagen würde. Eine Zunge zu viel im Hals. Eine unnötige Erfahrung mehr in meinem Leben. Aber wenigstens wusste ich nun, was ich definitiv nicht wollte.

Maren loves RubyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt