21. Juni

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Es ist der 21. Juni. Ich sitze in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa und lasse den vergangenen Tag Revue passieren. Vor mir auf dem Tisch liegt ein kleines Buch, nicht viel größer als ein Notizbuch. Der Einband des Buches besteht aus dunkelblauem Samt. Die Schrift auf dem Buchrücken ist silberfarben und in altdeutscher Schrift geschrieben: Erzähl mir über dein Leben, Papa. Meine Tochter hat mir das Buch vor einigen Stunden zum 70. Geburtstag geschenkt. "Ich würde gerne mehr über deine Kindheit erfahren. Vielleicht hilft dir das Buch dabei", sagte sie.

Nun, ein paar Stunden später, sitze ich also vor dem Buch und frage mich, was dieses Buch wohl in den nächsten Tagen mit mir macht. Ohne es so recht zu bemerken, streiche ich immer wieder über das Buch. Ich bin mir in diesem Moment sicher, dass das Buch ein Zeugnis über die wichtigsten Punkte in meinem Leben werden wird. Ich öffne das Buch. Auf der ersten Seite finde ich ein Foto. Unwillkürlich muss ich lächeln. Das Foto zeigt meine Tochter und mich an ihrem 18. Geburtstag. Ich konnte meine große Tochter nicht erwachsen werden lassen, ohne dass sie vorher nochmal mein kleines Mädchen war. Also trug ich sie auf dem Arm wie ein Baby, bis wir beide lachend zusammenbrachen. Bei der Erinnerung an diese Aktion breche ich nochmal in schallendes Gelächter aus. Ich hatte noch Tage später einen Muskelkater...! Ich betrachte das Bild noch einmal, dann blättere ich um. Die ersten Fragen sind einfach: Wie heißt du? Heinrich Müller. Wie alt bist du? 70 Jahre. Wann ist dein Geburtstag?

Bei dieser Frage höre ich auf zu schreiben. Mein Geburtstag... Natürlich weiß ich an welchem Tag ich geboren bin, aber diese Frage erinnert mich an die schwierige Situation zu der Zeit. Ich beantworte die Frage: 21. Juni 1945. Das war nur ein paar Wochen nachdem der 2. Weltkrieg endete. Meine Heimatstadt, Stade, war zum großen Teil zerstört. Die letzten Tage im April 1945 brachten die größte Zerstörung mit sich. Am 1. Mai war jedoch alles vorbei. Die britische Armee erreichte Stade und damit endete die Bombardierung der Stadt. Das Haus meiner Eltern war unbewohnbar. Meine Mutter und meine zwei älteren Schwestern wohnten deshalb in einem Raum mit ihren Nachbarn. Lotte war 5 Jahre alt, Elsa hatte gerade ihren 10. Geburtstag gefeiert. Meine Mutter war hochschwanger mit mir, mein Vater war noch nicht wieder aus dem Krieg zurück. Wie nahezu alle deutschen Männer wurde er in den letzten Monaten einberufen, aber er hatte meiner Mutter versprochen so schnell wie möglich wiederzukommen. Während meine Geburt immer näher rückte, erfuhr meine Mutter, dass ihr Mann es nicht rechtzeitig zur Geburt seines ersten Sohnes nach Hause schaffen würde. Am 20. Juni ging sie ins Krankenhaus und brachte am 21. Juni ihren ersten Sohn zur Welt. Die Geburt verlief ohne Komplikationen und der kleine Heini war gesund.

Als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam, erwarteten ihre Nachbarn sie schon an der Straßenecke. Sie waren sehr still. Meine Mutter fragte was passiert sei. Die Antwort bestand aus einem Zettel mit einer Telefonnummer. "Du musst diese Nummer anrufen", sagten die Nachbarn. Meine Mutter nahm den Zettel und verließ das Haus, um ein Telefon zu suchen. Nach einer Weile kam sie weinend zurück. Ihr Mann war verstorben, während ich zur Welt kam. Er war in einem Militärkrankenhaus behandelt worden, aber er hat seine schweren Verletzungen nicht überlebt. Ich selber kenne meinen Vater nicht, aber ich erinnere mich, dass meine Geburtstage immer eine seltsame Mischung aus Freude und Trauer gewesen waren. Meine ganze Familie trauerte um einen Mann, den sie Vater nannten, den ich aber nie getroffen habe. Immer an meinem Geburtstag weinten alle. Dabei wollte ich einfach nur meinen Geburtstag feiern, glücklich sein und viel lachen. So jedenfalls stellte ich mir Geburtstage als kleiner Junge vor. Ich denke an meine Schwestern. Sie hatten schwer zu tragen. Eine Mutter, die ihren Mann verloren hat, ein Vater, der nie aus dem Krieg zurückkehrte und ein kleiner Bruder, der all die Trauer nie verstehen konnte, weil er den Mann namens Vater nie kennengelernt hatte.

Ich schüttle meinen Kopf, um die Gedanken an meine Geburtstage loszuwerden. Ganz langsam kommen meine Gedanken wieder in der Gegenwart an und ich lese die nächsten Fragen. Sie waren gnädig: Welchen Beruf übst du aus? Ich bin Lehrer. Hast du Kinder? Zwei, ein Mädchen und einen Jungen. Wenn ja, wie alt sind sie? 23 Jahre und 21 Jahre. Was war der beste Tag deines Lebens? Als meine Frau mir erzählt hat, dass wir unser erstes Kind erwarten. Was war der schlimmste Tag in deinem Leben? Darüber muss ich nachdenken. Ich habe viele schlimme Tage in meinem Leben erlebt. Wir haben ein Kind verloren aufgrund einer Fehlgeburt, ich habe meine Arbeit verloren und jemand ist in unser Haus eingebrochen und hat die einzige Erinnerung an meinen Vater gestohlen: ein Siegelring mit seinen Initialien. Der schlimmste Tag meines Lebens war mein 4. Geburtstag.

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⏰ Last updated: Aug 22, 2019 ⏰

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21. JuniWhere stories live. Discover now