Roomates

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Der Regen fiel leicht und klar, wie dutzende kleiner Kristalle fielen die Tropfen zur Erde und hüllten alles in einen grauen Dunst ein. Es waren Nächte wie diese, denen Levi nur schwer etwas abgewinnen konnte. Sie erinnerten ihn zu sehr an die Tage, an denen viele gute Soldaten gefallen waren. Tage, die er vergessen wollte.

Der Schwarzhaarige blickte zum Fenster hinaus, melancholisch würde manch einer sagen. Die Tropfen prasselten mit stetigen Trommelschlägen gegen die Scheibe und jagten einander an dieser hinab, vereinten sich und trennten sich wieder auf der durchsichtigen Oberfläche. Er zählte die Sekunden, bis einer der Tropfen am unteren Rahmen des Fensters aufschlug und suchte sofort danach den nächsten, fixierte ihn mit seinen Augen und begann das Spiel erneut. Der Schwarzhaarige verbrachte so Minuten? Stunden?Einfach nur da sitzend, in dem alten Sessel, auf das Fenster starrend und dem Regen hinterher sinnend. Er verlor sich in seinen Gedanken,in den Erinnerungen, Sorgen und Vorwürfen, die ihn plagten.

Ein weiterer Tropfen rollte an der Scheibe herunter.

Das Zimmer lag im Halbdunkel, nur eine einzelne Kerze brannte vor dem Fenster auf dem alten Schreibtisch,tauchte den Raum in ein seltsam kaltes, orangenes Licht während die Tropfen aus der Dunkelheit herunterrasselten und ihren Rhythmus schlugen. Ein beständiges Trommeln, monoton und doch einlullend, nie endend und doch würde es früher oder später verstummen. Wie ein Herzschlag würde der Regen irgendwann verstummen und dann kämme die Sonne wieder hinter dem Horizont hervor und ein neuer Tag würde anbrechen.

Levi hasste den Gedanken daran, dass ein neuer Tag kommen würde. Ein neuer Tag nach einer verregneten Nacht würde kommen und mit ihm der Morgen und der strahlende Himmel.Ein reines blau, gereinigt durch den Regen der Nacht der allen Dreck weg gewaschen hatte. Ein blau, das ihn zu sehr an ihn erinnerte. An seine Augen. Sein Gesicht. Einfach an alles, was ihn ausmachte. Sowie einfach alles hier in diesem Zimmer. Ihrem Zimmer. Seinem Zimmer.

Es waren einfach zu viele Erinnerungen. Zu viele Bücher in dem alten Regal die sie zusammen gelesen hatten. Zu viele Nächte die sie beide in dem alten Sessel einfach beieinander gesessen hatten und geträumt hatten. Von einem neuen Morgen, einem Morgen ohne ihre Verantwortung. Einer Zeit,in der sie beide einfach nur zwei normale Menschen wären, tun und lassen konnten was sie wollten. Es waren Wunschdenken, Träumereien,Gedankenspiele, nichts weiter. Und doch waren sie alles, was sie beide in diesen Vier Wänden gehabt hatten und geteilt hatten.

Ein weiterer Tropfen klopfte sachte an der Scheibe des Zimmers.

Levi erinnerte sich noch genau an den Tag, als Erwin ihm angeboten hatte in seinem Zimmer zu wohnen, nachdem er dem Aufklärungstrupp beigetreten war.

Es war der Tag nach seiner ersten Expedition außerhalb der Mauern. Der Tag nach dem Tod von Isabel und Farlan. Levi konnte in der nun leeren Baracke nicht schlafen. Es war zu ruhig. Der Schwarzhaarige hatte sich nicht unruhig hin und her gewälzt in seinem Bett oder geweint oder gar mit leerem, verlorenem Blick in die leere gestarrt. Nein, er hatte einfach den Flur gefegt, wieder und wieder und wieder und wieder,ohne Unterlass. Es schien ihn nicht zu kümmern, was die anderen wollten, jeder hatte gesagt, er sei nicht ansprechbar gewesen. Erwin hatte Abends an seiner Tür geklopft und den Schwarzhaarigen in sein Zimmer beordert. Welches dieser seither nicht mehr verlassen hatte.Erwin war Levi in diesen düsteren Stunden eine Stütze gewesen, und Levi für ihn, wenn er an sich selber gezweifelt hatte. Die beiden ergänzten sich wie zwei Puzzleteile, die erst zueinander finden mussten.

Und nun war eines dieser Teile einfach aus seinem Leben gerissen worden. Und er war derjenige, der es weggeworfen hatte. Ohne auch nur darüber nachzudenken hatte Levi sich umstimmen lassen. Und eine Tür zugeschlagen, die er nie mehr würde öffnen können. Dies war die letzte Nacht, die letzte Nacht in der er in diesem Raum sein konnte.Die letzte Nacht, in der er die Präsenz des Blonden spüren konnte.

Es war Wahnsinn,Levi war das sehr wohl bewusst. Morgen würde dieses Zimmer jemand anderem gehören und diese Person würde Erwins Präsenz wegwischen,ohne dass sie es vielleicht wusste, so, als hätte er nie existiert.

Die Bücher in dem alten Holzregal rechts neben der Tür, welche er so gerne gelesen hatte.

Der hölzerne Schreibtisch, an dem sie beide oft Stunden mit Plänen und Dokumenten verbracht hatten.

Das Bett, alleine in der linken Ecke des Zimmers, welches sie sich geteilt hatten.

Das große Fenster an der Stirnseite des Raumes, aus welchem er so gerne Nachts die Sterne bewundert hatte und morgens den Sonnenaufgang.

Der rote Sessel neben dem Sofa auf welchem sie beide oft zusammen gesessen hatten und geträumt hatten.

All das wäre vorbei, endgültig. Sobald die ersten Strahlen der Sonne über den Horizont kriechen würden, wäre all dies nur eine Erinnerung,verloren in der Zeit und bald begraben unter so vielen anderen.Irgendwann würde Levi sich nicht mehr erinnern können und dann würde es endgültig vorbei sein.

Die Tropfen wurden weniger, sachter.

Levi blickte auf,hinaus aus dem Fenster.

Ein neuer Morgen brach an. Ein neuer Tag.

„Wenn ich einen Wunsch äußern dürfte, Erwin, nur einen...", murmelte er, sein Blick nicht deutbar. Doch fast erschien es, als würde er Reue zeigen, „ Und wir uns wiedersehen könnten..."


Die Sonne stieg empor und weckte die kleine Welt innerhalb der Mauern auf. Es war ein Neubeginn für die Menschen, wann immer die Sonne kam, brachte sie eine neue Welt mit sich. Nur die Welt eines Mannes zerstörte sie.Die Welt eines Mannes, die sich in einem Raum abgespielt hatte. Und nun für immer verloren war.

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