Die verhängnisvolle Lichtung

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Ihr Blick fiel auf den grossen finsteren Wald. Wollte sie da wirklich hineingehen? Sie bezweifelte, dass das eine gute Idee war. Doch sie hatte keine andere Wahl. Sie nahm all ihren Mut zusammen und bewegte sich in Richtung der riesigen majestätisch emporragenden Bäume. Diese warfen durch das spärliche Mondlicht furchteinflössende Schatten auf die leicht gefrorene Erde. Bei jedem ihrer Schritte knirschte der Frost unter ihren Füssen. Sie erreichte den Waldrand, atmete einmal tief durch und rannte los.

Sie schlängelte sich durch die immer dichter beieinander stehenden Bäume und versuchte angestrengt die Richtung beizubehalten. Sie achtete nicht auf den unebenen, mit Laub und Ästen übersäten Boden, was ihr noch zum Verhängnis werden sollte. Sie hörte auch nicht, die sich nähernden Schritte. Das Mädchen wollte einfach nur so schnell wie möglich nach Hause. Wegen des Laubes und der zunehmenden Finsternis bemerkte sie die Wurzel nicht. Ihr Fuss verfing sich darin und sie fiel, einen lauten Schrei ausstossend, hin. Eilig rappelte sie sich auf, doch sie wusste nicht mehr, in welche Richtung sie gehen musste. Sie beschloss, auf ihr Glück zu vertrauen und rannte weiter. Doch leider war ihr Glück nicht sehr zuverlässig, denn sie lief immer tiefer in den düsteren Wald hinein.

Ein knackendes Geräusch ertönte hinter ihr. Abrupt blieb sie stehen und horchte. Ihr Herz pochte wie verrückt, ihr Atem ging keuchend. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich völlig verirrt hatte. Eigentlich hätte sie schon längst zu Hause sein müssen. Ihre Eltern machten sich bestimmt Sorgen. Ein Rascheln, das von links zu kommen schien, liess sie zusammenzucken. Ihre Angst schwoll mit jeder Sekunde, die sie in diesem Wald verbrachte, weiter an. Doch sie wusste eines mit vollkommener Sicherheit: Sie musste so schnell wie nur irgend möglich aus diesem unheilvollen Wald raus. Sie rannte los, aber sei schlug schon wieder die falsche Richtung ein.

Plötzlich sah sie einen Lichtschimmer. Hoffnung keimte in ihr auf. Sie rannte darauf zu. Sie trat unter den Bäumen hervor und fand sich auf einer kleinen Lichtung wieder. Am Ende der Lichtung bemerkte sie ein dichtes Gestrüpp, das jeden daran hinderte, noch tiefer in den Wald einzudringen. Wenn man dort trotzdem hindurch wollte, durfte man nicht damit rechnen, unverletzt davonzukommen. Auf der Lichtung wuchs ein wenig Gras, wobei dieses schon ganz verdorrt und gelblich war. Eine rote Bank markierte die Grenze zwischen dem bösartigen Gestrüpp und der Lichtung. Der Anstrich war verblasst, aber es waren dünne Spuren von frischer weisser Farbe zu sehen. Ausserdem wies sie viele Kritzeleien und Hinweise auf Gewalteinwirkung auf. Die Bank schien alt zu sein, doch irgendjemand musste diesen Ort kennen. Für das Mädchen sah es so aus, als wolle dieser Platz unentdeckt bleiben. Sie bemerkte Morgentau, der an den, um Wasser lechzenden, Grashalmen glitzerte. Nebel waberte über den feuchten Untergrund. Der Wind bahnte sich einen Weg durch die Blättermauer und verursachte ein unangenehmes Pfeifen. Die Luft war so kalt, dass man den ausgestossenen Atem als Dampfwolke erkennen konnte. Es war nicht schwer sich vorzustellen, dass hier der Übergang von den Lebenden ins Totenreich war und dass die Kälte in Wirklichkeit Geister waren, die durch das Mädchen hindurchschwebten.

Ein Knirschen riss sie aus ihren Betrachtungen. Reflexartig wirbelte sie herum und stiess einen markerschütternden Schrei aus. Eine mächtige Gestalt stand zwischen den Bäumen und starrte sie an. Das Mädchen wich zurück bis sie mit dem Rücken an die Bank stiess, wobei sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.

Er machte einen Schritt auf sie zu und dann noch einen. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, da genau in diesem Moment eine Wolke beschloss den Mond zu verdecken. Er kam immer näher. Sie schaute sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch er war schon zu nahe, um die Seiten in Betracht zu ziehen und hinter ihr befand sich das dornige Gestrüpp. Sie presste sich fester an die Bank, mit dem Wunsch einfach wieder daheim zu sein.

Als er nur noch eine Armlänge von ihr entfernt war, hielt sie den Atem an, Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Ängstlich blickte sie zu ihm hoch. Ein lautloses Flehen lag in ihren Augen. "Ah. Endlich gibt es wieder etwas zu tun." Was bedeutete das? Was gab es zu tun? Und was hatte das mit ihr zu tun? Anstatt eine Antwort auf ihre Fragen zu erhalten, erkannte sie nun das Gesicht des Unbekannten. Seine Züge waren hart, aber seine Lippen verzogen sich zu einem unheilverkündenden Lächeln. Sie wollte ihn fragen, was er damit meinte, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie sah etwas Silbernes in seiner Hand aufblitzen. Er bewegte seine rechte Hand mit dem silbernen Etwas auf sie zu. "So ein leichtes Opfer hatte ich noch nie.", murmelte er mit einem gefährlichen Unterton in seiner tiefen Stimme. Da begriff das Mädchen endlich: Er wollte sie töten und das machte er offenbar nicht zum ersten Mal.

Sie wollte aufspringen und fliehen, doch sie war zu langsam. Er packte sie am Handgelenk und schmiss sie zurück auf den harten Boden. Sie schrie. Sie schrie lauter als jemals zuvor. Aber es nützte ihr nichts. Er bewegte das Messer auf ihren Hals zu. Er legte es auf ihre Kehle und schnitt sie ganz langsam durch, als würde er es geniessen. Das Mädchen hustete und spuckte Blut. Nach einigen Sekunden des Leidens war sie tot.

Das Mädchen schlug die Augen auf und erhob sich. Was war passiert? Da bemerkte sie den zierlichen, leblosen Körper, der mit aufgeschlitzter Kehle auf dem Boden lag. Die Gestalt sah genau gleich aus wie sie. Aber, aber das war ja sie. Sie merkte ausserdem, dass ihre Hände und überhaupt ihr ganzer Körper leicht durchscheinend waren. In diesem Moment realisierte sie: Sie war ein Geist.

Das Geistermädchen erblickte den Mann neben ihrem toten Körper knien. Er hatte ein blutiges Messer in der Hand. Das war ihr Mörder. Eine unbändige Wut überkam sie. Sie wollte sich an ihm rächen. Sie versuchte ihn zu erwürgen, doch ihre Hände glitten durch seinen Körper hindurch, als wäre er gar nicht da.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Ein gemeines Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Wenn er sie jetzt sehen könnte, würde er wahrscheinlich panisch davonrennen. Ihre Geisterhand umschloss das schicksalhafte Messer, das er nun auf den Boden gelegt hatte. Überrascht lachte sie auf. Sie konnte es festhalten. Es blieb nicht auf dem halb gefrorenen Gras liegen. Sie hob das Messer hoch und stiess es ihm kaltblütig ins Herz. Erschrocken keuchte er auf und blickte an sich hinunter, wobei er sein eigenes Messer in seinem Körper feststeckend erblickte. Verwirrt schaute er sich um und starb kurz darauf.

Das Mädchen, das gerade einen Mord begangen hatte, fühlte sich frei. Ihre Augen starrten ins Leere. Sie sah das Licht. Sie bemerkte die vielen Seelen, die alle ihre Arme nach dem Mädchen ausstreckten. Sie hatte ihre Rache ausgeübt und ihre Seele hatte keinen Grund mehr, länger auf der Erde zu verweilen. Sie atmete tief durch und ging ins Licht.


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