Zorn. Enttäuschung. Ratlosigkeit. Verzweiflung. In diesen Minuten hätte ich sämtliche dem Duden bekannte Adjektive bezüglich negativer Emotionen abklappern können. Ich lief einen kleinen, menschenleeren Gehweg entlang, während ich meine Hand an einem danebenliegenden Stacheldrahtzaun aufschürfte. Nach einer Weile begann dann Blut aus den Kratzwunden zu laufen. Aber da meine Hände ja anscheinend nicht in der Lage sind, etwas Schönes zu kreieren, waren sie sowieso wertlos. Also konnte ich sie doch auch verletzten und kaputtmachen, brauchen werde ich sie ja sowieso nicht mehr. Ich scheuchte ein paar lästige Tauben von meinem Weg, während ich meine blutige Hand zu einer Faust ballte. Mir wurde klar, dass der Pfad geradeaus in ein geschlossenes Industriegebiet führt, also beschloss ich, umzukehren, um zurück ins Stadtzentrum zu gelangen. Auf dem Rückweg konnte ich zumindest auch meine andere Hand am Zaun aufkratzen, damit sie wenigstens beide gleich verunstaltet sind. Leider musste ich jetzt erneut dieses schreckliche Gebäude voller betrügerischer Halsabschneider passieren. Diese Pisser haben Glück, dass ich keine Messer, Streichhölzer oder andere potenziell gefährliche Gegenstände bei mir habe. Aber andererseits wäre es das nicht einmal wert, sich an solchen Menschen die Hände schmutzig zu machen und vielleicht am Ende sogar im Gefängnis zu landen. Wegen dieser Trottel bin ich den ganzen Weg nach Mailand gekommen, den ich auch noch komplett von meinem eigenen hart ersparten Geld finanziert habe. Und das alles nur, um von zwei zusammenoperierten Pseudo-Stil-Ikonen ausgenutzt und beleidigt zu werden, die mir sagen, dass ich ein Niemand bin, der nichts erreichen wird?! Manchmal kann das Leben ein richtiges Arschloch sein, aber dagegen kann man wohl nichts machen. Mittlerweile taten meine Beine vom vielen Laufen durch die zahllosen Gassen und Seitenstraßen noch mehr weh als meine zerkratzten Hände.
Als ich in der Stadt ankam, entschied ich mich dazu, nicht direkt ins Zentrum zu gehen, sondern in eine Parallelstraße, denn ich hatte im Moment absolut kein Bedürfnis nach Menschenmengen. Doch es gab noch etwas anderes, auf das ich wirklich hätte verzichten können. Mama anrufen. Sicherlich ist sie schon total brennend und gespannt auf meinen Anruf. Ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich sie jetzt nicht anrufe, würde sie es sicher sehr bald tun. Ich zog mein Handy aus der Tasche und drückte die Tasten mit meinen zerfetzten Fingern. Mein Herz schlug mit jedem Läuten höher. Ich schluckte. "Schätzchen, du bist es! Gott sei Dank, ich sterbe hier fast vor lauter Aufregung. Wie war es? Wann sind deine ersten Stücke endlich in allen Boutiquen erhältlich?" rief sie ins Telefon. "Mama... es... es war... es war..." Ich konnte meinen Satz nicht beenden, bevor ich in Tränen ausbrach. "Oh Allmächtiger, was ist passiert, mein Kind? Was ist los, sag es mir! Sonst muss ich gleich auch weinen! So kenne ich dich überhaupt nicht, normalerweise bist du immer zuversichtlich und fröhlich!" Ihre Stimme klang nach einer Mischung aus Überforderung, Angst und Schockierung. "Mama, es tut mir so leid, aber ich kann jetzt nicht darüber reden. Es ist zu schmerzhaft. Kann ich dich später nochmal anrufen? Ich verspreche, dich dann zu kontaktieren!" jammerte ich, während ich meine weiteren Tränen zurückhielt. "Natürlich, mein Herzchen! Ich liebe dich! Ich bin immer bei dir, vergiss das nie!" Sie legte auf und ich wusste genau, dass sie jetzt auf dem Sofa sitzen und weinen würde. Ich konnte nicht mehr laufen. Ich musste mich irgendwo hinsetzen. Glücklicherweise gab es ein kleines Café in der Straße, in der ich gerade war. Das war perfekt, denn es waren wahrscheinlich nicht viele Leute dort und ein Stück Kuchen mit einem heißen Kaffee war jetzt auch eine gute Idee.
Das Café war von außen sehr unauffällig, aber innen war es wirklich schön eingerichtet. Irgendwie musste ich bei dieser Inneneinrichtung an Sherlock Holmes denken. Alles in Rot- und Brauntönen, prächtige Sessel, unzählige Kerzen und eine beeindruckender Kronleuchter und sogar ein Kamin. Es war nur ein Deko-Objekt, aber ich denke, dass ein echter Kamin in Italien zu dieser Jahreszeit auch nicht notwendig ist, um es warm zu haben. Der hübsche Anblick dieses stilvollen Dekors war immerhin ein kleiner Trost. Ich nahm an einem Tisch in der Ecke des Raumes auf einem dieser schicken Stühle Platz. Eine Kellnerin kam sofort und fragte sehr freundlich und zuvorkommend nach meiner Bestellung. In der Vitrine sah ich einen köstlich aussehenden Erdbeerkuchen, von dem ich sofort ein Stück bestellte, gefolgt von einem Cappuccino. Ich knabberte die zerfetzte Haut so unauffällig wie möglich an meinen Fingern, während mein Blick durch das Innere des Cafés schweifte. Neben mir waren noch ein paar andere Gäste hier. Am Fenster saß eine ältere Dame in einem blumigen Kleid und einem riesigen Sonnenhut und beobachtete die vorbeilaufenden Menschen, während sie ihren Kaffee trank. Am Eingang saß ein scheinbar junges Liebespaar. Sie erzählte etwas sehr Langes auf Italienisch, aber ich glaube, er hörte noch weniger zu als ich. Klassische Situation. Die Frau redet zu viel und der Mann hört nicht genug zu. Mitten im Café saß ein junger Mann in seinen geschätzten Mittzwanzigern, der mit seinem Telefon beschäftigt war. Sein Aussehen war zugegebenermaßen sehr herausstechend. Er trug sein dunkles Haar in einer Art Kranz um den Kopf und sein linkes Ohr war mit einem Ohrring geschmückt. Er sah irgendwie aus, als hätte er einen orientalischen Einschlag mit diesem goldbraunen Hautton und diesen großen braunen Augen. Ich war total angetan von seinem Kleidungsstil, um ehrlich zu sein. Er trug eine purpurfarbene Jacke und ein blaues Hemd darunter. Der bunte Blumengarten auf seinem Hemd ließ den Dschungel auf meinem wie ein erbärmliches Balkonblumenbeet aussehen. Eine wirklich eindrucksvolle Erscheinung muss ich sagen. Aber ich wollte ihn nicht die ganze Zeit wie das Achte Weltwunder anstarren, also zog ich es vor, mich meiner mittlerweile eingetroffenen Bestellung zu widmen.
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Milano Miracle (Deutsch)
FanficEin junger, strebsamer Künstler begibt sich den ganzen Weg in die norditalienische Modemetropole Mailand, um dort seinen Traum zu verwirklichen. Dort angekommen muss er sich allerdings mit bitteren Enttäuschungen und Rückschlägen konfrontiert sehen...