7. Agape

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Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Das ist wirklich mein schönstes Kleid, ich liebe es. Flaschengrün und fliessend und passt zu fast jeder Gelegenheit. Ich bin wie immer zu blass, aber mit mehr Rouge würde ich mich wie angemalt fühlen. Immerhin sieht meine Haut ganz gut aus zurzeit. Der Lidschatten ist farblich in einem dezenten Grün meinem Kleid angepasst und die Haare fallen in weichen Wellen über meine Schultern. High Heels, check. Handtasche, check. Ok, so kann ich Mr. Rockstar unter die Augen treten. Draussen ertönt das Hupen eines Autos und ich sause raus. Innerlich pfeife ich durch die Zähne. Schicker schwarzer Audi, Kelly. Frau Oppenmeyer von nebenan stiert mit Lockenwicklern auf dem Kopf von ihrem Fenster aus in meine Einfahrt. Auffälliger geht's nicht mehr- typisch Frau Oppenmeyer. Das fängt ja schon mal gut an. Ein eigentlich wie ein Bodyguard aussehender Mann etwa Mitte Vierzig kratzt sich am kahlgeschorenen Kopf und lächelt mich freundlich an, als er mich entdeckt. Das muss dann wohl der Fahrer sein.
„Miss Louisa, ich bin Paul. Sehr erfreut. Bitte nehmen Sie Platz." Oh, ein englischer Akzent. Er hält mir die Tür auf (Frau Oppenmeyer hat jetzt offiziell ihre Brille geholt) und ich zerfliesse in den weichen Polstern. Als wir losfahren, erregt ein weisser Umschlag auf dem leeren Sitz neben mir meine Aufmerksamkeit. Mit klopfendem Herzen öffne ich ihn.

Es gibt eine Liebe,
die über jede Liebe erhaben ist,
die Leben überdauert.
Zwei Seelen aus einer entstanden.
Vereinigt wie zwei Flammen.
Identisch – und doch getrennt.
Manchmal zusammen, durch Gefühl und Verlangen verschweißt.
Manchmal getrennt, um zu lernen und zu wachsen.
Aber einander immer wieder findend.
In anderen Zeiten, anderen Orten.
Wieder und wieder
(Tatsuya, 6. Jahrhundert)

Gott, ist das ein schönes Gedicht. Wenn ich das richtig verstehe, handelt es von Seelenbegegnungen oder Seelenliebe. Er muss sich wirklich Gedanken über unseren Konzert-Zusammenprall gemacht haben. Habe ich ja auch, aber er ist definitiv weiter gekommen als ich, obwohl wir offenbar unabhängig voneinander auf das selbe verrückte Thema gestossen sind. Aber das Gedicht beschreibt, wofür ich die letzten Wochen keine Worte gefunden habe ausser „Seelenverbindung". Ich merke erst jetzt, dass ich am ganzen Körper eine Gänsehaut habe. Als ich hochsehe, begegne ich dem Blick des Bodyguard-Fahrers im Rückspiegel. Schnell wendet er den Blick ab. Ich habe nur seine Augenpartie gesehen, aber diese war von feinen Lachfältchen gesäumt.
„Sie haben den Gedicht also gesehen, das ist gut. Und es gefällt Ihnen, yes?" Ich schaue erneut in den Rückspiegel und sehe wieder die lächelnden Augen. Er weiss also davon. Ich nicke und lächle zurück.
„Wenn ich mir den Bemerkung erlauben darf, Miss." Er räuspert sich.
„Selbstverständlich?" antworte ich gespannt.
„Nun, bitte lassen Sie ihn wissen, dass Ihnen den Gedicht gefallen hat. Er ist schon seit mehrere Tagen deswegen so, ähm... How do you say. Zappelig? Kind of restless, you know." Er räuspert sich abermals.
„Natürlich, das werde ich. Vielen Dank, Paul."
„Miss."
Paul ist mir ans Herz gewachsen und dieser Kelly und sein Gedicht... Ich habe das Gefühl, ich leuchte wieder aus der Brustregion heraus, so wie auf dem Konzert.
Mit klopfendem Herzen bringe ich das letzte Stück des Weges hinter mich und dann sind wir da. Uuh, Mr. Rockstar empfängt Dorfmädchen also im 5-Sterne-Hotel. Ok, jetzt noch einigermassen elegant aus dem Auto steigen und die Lobby finden. Und dann einen Drink, bitte. Bitte! Paul hält mir die Tür auf und übergibt den Autoschlüssel einem Angestellten.
„Miss Louisa, ich begleite Sie zu den Hotel." Wie charmant, diese kleinen Deutschfehler hie und da.
In der Lobby muss ich mir alle Mühe geben, damit mir die Kinnlade nicht runterklappt. Ich sehe mich verstohlen um, kann ihn aber nirgends entdecken. Paul meldet sich an der Rezeption. Was? Ich soll doch wohl nicht zu ihm auf's Zimmer? Mir rutscht das Herz in die Hose. Also ins Kleid. „Hello. Miss Keller zu Mister Müller in Suite 277, bitte." Mister Müller? Miss Keller? Oh nein, jetzt läuft was schief. Ich zweifle sofort, ob ich das alles nur geträumt habe oder vielleicht träume ich ja gerade jetzt? Ich zweifle an der ganzen Situation und alles kommt mir surreal vor. Hektisch esse ich ein paar Erdnüsse aus einem Schälchen- die schmecken ziemlich echt. Ich kneife mich in die Hand und tätschle immerzu meinen Arm. Paul dreht sich zu mir um, blinzelt irritiert und möchte mir die Keycard reichen.
„Alles in Ordnung, Miss? Müssen Sie allergisch jucken?"
Ich glotze ihn nur an und blinzle viel zu schnell. Was? Muss ich jucken? Meint er kratzen?
„Miss? Wegen die Erdnüsse? Müssen Sie jucken?"
Ach, er hat gesehen, wie ich mich gekniffen und getätschelt habe und mein Gesichtsausdruck wird sein Übriges dazu getan haben. Wie peinlich.
„Nein nein, Paul, alles in bester Ordnung!" lächle ich. War das überzeugend?
Er scheint zufrieden zu sein.
„Alright. Hier, Ihre Keycard. Wissen Sie, es dauert nicht lange und da stehen Scharen von Fans und Reportern draussen, wenn er mit seine echte Name einchecken würde. Darum wir nehmen meist Müller oder so etwas, hier in Germany."
Ich nicke und blinzle. Natürlich. Wieso bin ich nicht darauf gekommen. Ist ja völlig logisch.
„Sie müssen in die zweite Stock, Zimmer Nr. 277. Er wollte nicht in die Öffentlichkeit reden. Nur vorsichtige Massnahmen, wissen Sie. Einen angenehmen Aufenthalt, Miss."
„Danke", flüstere ich und schon ist er weg. Der sympathische Lachfältchen-Paul ist weg. Ich bin allein. Ok, durchatmen. Ich fahre mit dem Aufzug in den zweiten Stock und schmunzle innerlich über die „vorsichtigen Massnahmen", an denen Caro bestimmt ihre Freude hätte. Oben angekommen biege ich einmal um die Ecke und da ist sie: Die 277.

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