Manchmal

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Manchmal, da würde ich gerne deine Schädeldecke öffnen und dein Gehirn auseinandernehmen, um zu sehen, was in dir vorgeht.
Mit einem Skalpell würde ich an deiner Kopfhaut beginnen und sanft deine Haut nachfahren, bevor ich dir gewaltvoll den Knochen breche und zur Seite lege.

Ich würde dabei keine Handschuhe tragen, die derbe Intimität gefällt uns doch beiden. Wenn ich nun vor dir stehe und die Gehirnhälften im Blick habe, würde ich die rechte nehmen - ich weiß nämlich, wie sehr du Nazis hasst. Du würdest es sowieso nicht bemerken, wenn ich dich mit Chlorophorm betäube und dich damit vollkommen außer Gefecht setze.

Der Mensch besitzt im Durchschnitt 100 Milliarden kleiner Gehirnzellen, welche allesamt miteinander verknüpft sind, wie ein rießiges Wollknäuel, welches nur darauf wartet, aufgerollt zu werden. Welchen Teil ich genauer unter die Lupe nehme, würde ich wahrscheinlich spontan entscheiden, jedoch scheint mir der Frontallappen am nützlichsten, um an meine Antworten zu kommen. Er ist schließlich für die Impulskontrolle, das Sozialverhalten und die Persönlichkeit verantwortlich, welche mich bei dir zum Verzweifeln bringt.

Andere würden mich für verrückt erklären, würde ich ihnen von dir erzählen. Du scheinst schließlich so offen, ehrlich, aufrichtig. In der Tat beherrscht du dieses Spiel mittlerweile ziemlich gut, durch jahrelange Übung hast du dich darauf spezialisiert, Menschen das Gefühl zu vermitteln, dich einschätzen zu können. Du könntest den Raum betreten und ihn mit so viel Wärme durchfluten, dass man deine eiskalte Haut nicht einmal mehr bemerken oder den Schneeballen in deinen Augen nicht mehr erkennen könnte.
Es ist mir ein Rätsel, wie du es anstellst, dich so zu verbiegen, ohne von deinem Pfad abzukommen.

Du bist ein geselliger Mensch. Doch manchmal, wenn ich dir für eine Sekunde voraus bin, kann ich den kurzen Funken von Angst auf deinem Gesicht erkennen und dich rennen sehen, so schnell, dass es einem Windhauch gleicht. Manchmal, da sehe ich die Zweifel und Selbstscham, ich kann die abwehrenden Hände beobachten, mit welchen du dir in deiner Fantasie mehr Platz verschaffst. Deine Präzision ist nahezu perfekt, ein universeller Geisteszug, mit welchem du andere ins Schachmatt treibst.

Doch, manchmal, da schlägst du dich selbst mit deinen eigenen Waffen. Es scheint mir, als herrsche in dir ein Krieg - welche Seite dabei die Gute spielt, weiß ich nicht, doch ich weiß, welche die Stärkere ist. In kurzen Momenten aber leuchtet die andere kurz hervor, sie steigt aus den dunklen Rauchschwaden bittersüßer Lügen auf und tritt aus den Schatten heraus. Ob der Käfig, in dem sie gefangen ist, zu ihrem Schutz oder zur Strafe gebaut wurde, ist fragwürdig, jedoch besitzt sie selbst die Schlüssel und wagt sich in kurzen Momenten in die Freiheit. Sie träumt von Liebe, grenzenloser Freiheit und Schönheit und Kunst. Momente, die ihr den Atem rauben, sie blühen lassen, vollkommen übermannen, davon giert sie, wie ein Raubtier auf seine Beute stürzt sie sich darauf. An diesen Tagen ist dein Lächeln aufrichtig, ich erkenne das Leuchten in deinen Augen, in deiner Aura, in deinem Sein. Wie ein Schmetterling hast du endlich den Mut aufgebracht, deine zaghaften Flügel aufzuspannen und sie der Welt zu präsentieren.

In manchen Momenten schafft es jemand, sie kurz bestaunen zu können, und nicht nur auf die von dir vorgemalte Leinwand starren zu müssen, welche du ihn vorhälst. Du erlaubst ihm sogar, sie zu berühren und sie zu interpretieren. Erzählungen von Blumenwiesen, Sonnenstrahlen und Bilderbuchmärchen erzählst du nicht mehr so, wie es andere gerne hören würden, du beschreibst die Sonne neongrün, die Wiese in grellen Lilatönen und den Himmel malst du in den Farben Kobaltrot und Bordeauxblau. Aus deinem Kokon schlüpfend verwandelst du dich, expressionistisch präsentierst du dich der Außenwelt. Dein Schauspiel ist vielleicht perfekt, doch glaube mir, könntest du dich in diesem Zustand selbst erleben, wärst du gleich in Ekstase verfallen wie ich, wenn ich dich brennen sehe.

Doch den Schlüssel hast du immer als Kette bei dir, bereit, dich jederzeit wieder zu verkriechen. Beim Versuch, andere am Feuer teilhaben zu lassen, verbrennst du dich selbst daran und gehst langsam in Rauch auf. Dir geht die Luft aus, doch du kämpfst gegen die aufsteigenden Tränen und unterdrückst den Husten, welcher sich anfühlt, als hätten sich in deinen Lungen winzige Käfer angesammelt, welche sich von den Kapillaren ernähren. Ein Mensch überlebt für zwei Stunden beim Einatmen giftiger Substanzen, bevor er tot zu Boden fällt. Du bist auf der Hut, atmest die Glut ein, bevor du dir den Schlüssel von Halse reißt und dich wieder verkriechst, die Mauer mühsam errichtest und abermals im Dunkeln sitzt. Es scheint, als hätte es diese Seite nie gegeben, wie ausradiert von einem Blatt Papier überspielst du es, wickelst dich zurück in dein Kokon und verwandelst dich wieder in die Raupe, aus Angst, wir könnten dir die Flügel brechen.

Ich habe mich schon immer gefragt, wie du es wohl anstellst. Du bist als geselliger Außenseiter verdammt, dich prägt dieser Idealismus von Perfektion wie Picasso, doch du bemerkst dabei nicht, dass es am Ende doch die klitzekleinen Abweichungen sind, welche ein Gemälde so herausstechen lassen. Ich bin fasziniert, das bin ich wirklich. Du spielst die Rolle nahezu perfekt und um nicht vollkommen die Luft zu verlieren, erlaubst du dir manchmal für einen kurzen Moment, aufatmen zu können.

Würde ich mich nun an die Schranken deines Gehirns vorbeibahnen und endlich dem Kern der Sache näherkommen, würde ich die Ironie hinter deinem Spiel erkennen. Ich würde die kleine Botschaft erkennen, welche du für mich beigelegt hast und den Kopf verzweifelt meine Hände stützen. Du hast alles genau bedacht, jeden deiner Züge schon im Voraus genauestens geplant und nur auf meinen Terroranschlag gewartet, bevor du lachend ausgenockt wurdest. Ich finde die Antworten nicht, wahrscheinlich werde ich sie niemals finden, du hast sie weggeschlossen und in einen tiefen Ozean voller gleichaussehender Lügen geworfen und nach dieser einen Urne zu suchen, dafür reicht der Sauerstoff für uns beide nicht. Du hast Rauchbomben ausgelegt und wartest darauf, sie zünden zu lassen, schneide ich den falschen Kabel durch. Und ich sehe ein, dass ich gegen dich verloren habe, das Wunschdenken, schneller zu sein als du verpufft in meinem Kopf wie eine perfekte Illusion von Geständnissen. Ich setze den Teil wieder in deinen Kopf ein, bevor ich dich mit Nadel und Faden behutsam zusammenflicke, dich in dein Bett zurücklege und die Tür beim Verlassen des Raumes hinter mir schließe.

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