Gestern Nacht

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»Du sahst gut aus gestern Nacht.«
Die Worte lagen ihr wie Blei in den Adern. Sie hatte einen Fehler begangen. Einen, der so gravierend war, dass er ihr ganzes Leben auf dem Kopf stellen konnte. Jemand kannte ihr Geheimnis und wenn das geschah, war sie vor niemandem mehr sicher.
»Schatz?« Es riss sie markerschütternd aus ihren Gedanken. »Kannst du den Kaffee schonmal aufsetzen? Ich bin gleich soweit.«
Mit angstgeweiteten Augen saß sie am Küchentisch, die Beine verkrampft übereinander geschlagen. Ihre kalten, dünnen Finger umschlossen den kleinen Zettel, der mit aufgeklebten Zeitungsbuchstaben jene gefährlichen Worte in ihre Augen brannte. Und trotz ihrer großen inneren Unruhe, lagen ihre Hände ruhig auf dem Tisch.
Sie hätte niemals auf diese glamouröse Gala gehen sollen, mit dem unsagbar teuren Kleid, dass ihr Josh extra dafür gekauft hatte. Dann würde sie jetzt nicht diesen Zettel in den Händen halten, der alles und nichts bedeuten konnte und den sie heute morgen mit Erschrecken unter dem Türschlitz gefunden hatte.
Josh kam hinter ihrem Rücken in die Küche gestolpert, knüpfte im Gehen sein verkrumpeltes Hemd zu und griff, ohne genauer hinzusehen nach der Kaffeekanne. Mit einem »Hoppla« wurde ihm bewusst, dass die Kanne noch immer leer war und er sich Luft in seine Tasse geschüttet hatte. Verwirrt schielte er zu seiner Frau.
»Natalie?«, fragte er unsicher.
Sie zog reflexartig ihre Hände samt Zettel vom Tisch und verbarg sie hinter der Stuhllehne.
»Was ist?«, presste sie hastig hervor, ließ den Zettel leise unter ihren Sitz gleiten und zog die Hände wieder nach vorne, als wäre nichts gewesen. Dann stand sie auf, griff sich wortlos die Kaffeekanne und bereitete das Frühstück vor.
»Und, wie war es gestern Abend? Hast du ein paar nette Leute kennengelernt?«, fragte Josh, während sie zusammen am Tisch saßen und auf ihren Marmeladenbroten kauten.
Sie hielt inne. Gestern Abend. Unwillkürlich zog sie ihre nackten Füße über den Küchenboden, bis sie den Brief unter ihrem Stuhl ertastete.
»Du weißt, dass solche Galas rein geschäftlicher Natur sind? Da trifft man keine netten Leute«, entgegnete sie schließlich und begann mit dem Löffel in ihrem Kakao zu rühren. Das war gelogen.
»Aber ansonsten war es recht langweilig. Ich habe bloß ein wenig getanzt.« Auch das war gelogen. Sie hatte den Tanz ihres Lebens getanzt, mit einem jungen gutaussehenden Mann, der sie verführt und zutiefst berührt hatte. Da hatte eindeutig Liebe in der Luft gelegen, eine, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er war der Traum von einem Mann und der Schwarm jedes Mädchens. Es war fast, als hätte er sie an dem Abend ausgesucht gehabt, sie allein unter tausenden anderen. Ein wahrhaft einzigartiges Gefühl.
Sie schüttelte sich. Irrsinn! Es war eine Feier mit viel Tamtam gewesen und nichts weiter. Da hatte gar nichts in der Luft gelegen und es war auch nichts weiter passiert. Bloß ein stinknormaler Tanz. Mit ihrem Mann allerdings hatte sie nie so getanzt. Aber halt, genau da musste es passiert sein - beim Tanzen! Jemand musste es gesehen haben.
»Du wirkst etwas angespannt heute.«, sagte Josh und sah sie besorgt an.
»Ich? Wie kommst du darauf? Ich bin einfach nur etwas erschöpft.«
Schwungvoll sprang sie auf, stürmte aus der Küche und ließ ihren verdutzten Mann hinter sich zurück. Sie musste jetzt einfach nur raus, fort von alle dem, was sie im Inneren verkrampfte und einengte.
Die frische Morgenluft tat ihr gut. Die Sonne lugte bereits hinter dem Horizont hervor und spendete ihr etwas Trost und Sicherheit. Irgendetwas jedoch beunruhigte sie noch immer tief in ihrem Magen. Tausende Blicke schienen auf sie gerichtet zu sein. Als sie sich aber umsah, war sie vollkommen allein. Und obwohl der Wind von Frieden flüsterte, blieb sie von ihrem Unwohlsein erdrückt.
Immer zügiger wurden ihre Schritte, immer panischer, bis sie zu rennen begann. Immer wieder sah sie zurück, als erwarte sie, dass jede Sekunde jemand hinter einem der Bäume bervorsprang. Als sie abermals hinter sich blickte, stieß sie plötzlich gegen etwas Dumpfes. Erschrocken gab sie einen spitzen Schrei von sich und wandte sich blitzartig wieder nach vorne.
»Du!«, stieß sie aufgeregt hervor.
»Ja, ich. Was ist passiert?« Der junge Mann vor ihr fasste sie vertraut an den Schultern und drückte sie sanft an seine Brust. Sie schmiegte sich ganz automatisch an ihn.
»Ich dachte nur... Es war so, als... Ach, das spielt keine Rolle.« Mit geschlossenen Augen legte sie sich noch tiefer in seine Umarmung und atmete tief ein und aus. Die Geborgenheit, die er ausstrahlte, wog sie in eine innere Ruhe und Ausgeglichenheit. Er war ihr kein Unbekannter. Beinahe fühlte es sich so an wie am Vorabend, als sie in den unendlichen Lichtern der Nacht wie zwei Verliebte getanzt und sich geküsst hatten.
»Du bist ganz kalt. Komm lieber zu mir nach Hause.« Wortlos ließ sie sich von ihm zu seiner Wohnung führen. Vor der Haustür begann er auf einmal unruhig in seinen Taschen zu kramen.
»Mein Schlüssel!«, rief er dann und seufzte. »Ich muss ihn wohl verloren haben, als wir zusammengestoßen sind.« Nach kurzem Überlegen zuckte er mit den Schultern und sagte: »Naja, was soll's.«
Dann zog er einen Dietrich aus seiner Jackentasche und knackte das Schloss.
Der süße Geruch von Orangen stieg ihr in die Nase. Es roch nach Heimat. Als sie seine Wohnung betrat, spürte sie die wohlige Wärme aufsteigen. Es war freundlich eingerichtet, so als ob sie jederzeit hier willkommen wäre.
»Gefällt es dir?«, flüsterte er ihr ins Ohr, huschte an ihr vorbei und bot ihr einen Sitzplatz an. Sie setzte sich und nickte. Nachdem er ihr Tee gemacht hatte, gesellte er sich zu ihr.
»Du gehörst zum Denvas-Clan, nicht wahr? Dein Brandzeichen am Rücken. Das ist doch das des Denvas-Clans, oder?«, fragte er plötzlich und sah sie mit ernsten Blicken an.
Sie sagte nichts, sondern saß nur steif da. Ihre Tasse hielt sie fest umklammert, sodass sie sich die Finger verbrannte.
Der Unbekannte, der ihr den Zettel geschrieben hatte war also nicht irgendwer, es war er! Er kannte ihr größtes Geheimnis. Was sollte sie tun? Sie war in Gefahr. Ihr Mund wurde immer trockener, das Gesicht bleicher.
»Dann...«, fuhr er fort. »Bist du in Wahrheit ein Mann?«
Irritiert wandte sie sich zu ihm und starrte ihn an, als wäre er völlig bescheuert.
»N-nein. Natürlich nicht«, entgegnete sie dann mit brüchiger Stimme.
»Puh, da bin ich ja erleichtert.« Er atmete kurz auf, zog dann aber im nächsten Moment eine Augenbraue irritiert nach oben. »Aber dann verstehe ich nicht, wie du dem Denvas-Clan angehören kannst.«
»Was daran verstehst du denn nicht?« Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag und ihre Stimme nahm wieder die gewöhnlichen Züge an. Alles schien bloß ein einziges blödes Missverständnis zu sein.
»Ich dachte immer, der Denvas-Clan sei ein einziger Männer-Clan«, sagte er und kratzte sich am Kopf.
»Heißt das, du weißt nicht, welche Rolle Frauen im Denvas-Clan haben? Du wolltest mich nicht bedrohen mit dem Zettel, den du mir geschickt hast?"
»Welcher Zettel? Achso, nein der Zettel sollte eigentlich ein Kompliment sein. Ich wusste ja bis eben nicht einmal, dass es überhaupt Frauen im Denvas-Clan gibt. Warum also sollte ich dich bedrohen? Ist dieser blöde Zettel etwa der Grund, warum du so aufgeregt bist?« Er wirkte selbst sehr verwirrt und fuchtelte wild mit den Armen umher, so als versuche er, alles wieder geradezubiegen, was auch immer hier schiefgegangen war. Es zauberte ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Er stellte sich schon etwas dümmlich an.
»Der Zettel ist tatsächlich der Grund. Aber du musst zugeben, dass er mit den aufgeklebten Buchstaben wirklich nicht gerade wie eine Liebesbotschaft aussieht.«
Er lachte auf und strich sich dann verlegen durch die Haare.
»Da du scheinbar wirklich nicht weißt, warum ich so auf diesen Zettel reagiert habe, werde ich es dir erklären. Also hör gut zu.« Sie stellte die Tasse ab und rieb sich die Hände. »Entgegen deines Halb-Wissens muss ich sagen, dass es im Denvas-Clan schon immer auch Frauen gab. Sie haben nur eine ganz andere Rolle als die Männer.«
»Sie sind Prostituierte?«
»Blödsinn!«
»Entschuldigung.«
»Sie sind Auftragskiller! Attentäter! Professionelle Mörder!«
Sie machte eine Pause. Die Stille lag matt in der Luft und erzeugte eine unangenehme Spannung.
»Verstehe«, sagte er dann. »Dann frage ich mich aber, warum du von so einem kleinen Zettel mit ein paar dämlichen Worten ängstlich herumrennst, wie ein aufgeschrecktes Huhn. Müssten Auftragskiller nicht nervlich viel stärker sein?«
»Tse. Ja, das stimmt schon. Aber es steckt sehr viel mehr dahinter als du glauben magst. Der Denvas Clan ist vielen ein Dorn im Auge. Wer selbst Dreck am Stecken hat, läuft Gefahr, plötzlich ein Opfer des Clans zu werden. Deshalb versuchen die meisten, dem zuvor zukommen, indem sie die Denvas-Frauen aufspüren und töten. Da mag man noch so ein guter Auftragskiller sein. Es schützt einen nicht selbst vor dem Tod, denn der kann hinter jeder Ecke lauern.«
Sie senkte den Kopf und starrte auf die Teetasse, in der der Tee winzige Wellen schlug und das Gesicht ihres Gegenübers spiegelte. Ein böser Blick richtete sich auf sie.
»Hinter jeder Ecke?«, sagte er mit tiefer Stimme. Sie hob dem Kopf und sah einem Mann in die Augen, den sie nicht erkannte. »Oder direkt vor dir!« Mit mörderischem Funkeln in den Augen zückte er ein langes Messer und schoss blitzschnell nach vorne. Sie spürte kaum, wie die scharfe Klinge durch ihren Hals fuhr und wie sie zu Boden fiel. Mit triumphierendem Gesichtsausdruck beugte er sich über sie und strich ihr zärtlich über die Wange.
»Schlaf gut.«
Dann wandte er sich zum Gehen.
Sie sah ihn aus dem Zimmer treten mit bedächtigen Schritten, während sie dalag, nach Atem ringend. So fühlte es sich an, zu sterben. Es kam ihr doch plötzlicher als erwartet. Die Dunkelheit umhüllte sie, der Schmerz verschwand. Dann war sie tot.

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