19. Das notwendigste Werk ist stets die Liebe

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Die Woche kriecht vor sich hin, und als es endlich Samstag ist, ziehen sich die Stunden bis zum Abend ewig hinaus. Er hat sich seit der letzten Nachricht nicht mehr gemeldet. Ich habe das sichere Gefühl, dass dieser Abend alles entscheiden wird. Jetzt gibt es nur noch schwarz oder weiss. Wenn ich das nächste Mal meine Wohnung betreten werde, wird klar sein, ob er noch zu meinem Leben gehört oder für immer daraus verschwunden sein wird. Der Gedanke an die zweite Möglichkeit schnürt mir das Herz zu. Immer noch habe ich das unerschütterliche Gefühl, dass es ein Leben ohne ihn nicht mehr geben kann, aber ich weiss nicht, ob ich mir selbst trauen kann oder ob das Wunschdenken ist.
Wieso hat er so eine späte Uhrzeit vorgeschlagen? Das ist ja nicht zum Aushalten. Am späten Nachmittag öffne ich Instagram und sehe mir seinen neusten Post an. Gestern Abend haben sie eine Show in Köln gespielt.
„Köln, ihr wart grossartig!! Thank you!" steht unter einem Foto von ihm und der Band auf der Bühne. Tausende strahlende Gesichter im Hintergrund. Ok, die Fahrt von Köln nach Hamburg dauert ein paar Stunden. Der Arme. Immer on the road und dann noch die nervenaufreibende Geschichte mit mir. Wo spielen sie als nächstes? Ich checke die Tourdaten. Übermorgen in einem Kaff in Süddeutschland. Das ist gut. So haben wir genügend Zeit, bevor er weiter muss.
Irgendwann stehe ich mit hängenden Schultern vor meinem Kleiderschrank. Soll ich einfach Jeans und T-Shirt anziehen und ungeschminkt gehen? Schliesslich ist er verheiratet. Wichtiges Detail. Also wäre es vielleicht besser, wenn ich so wenig wie möglich anziehend auf ihn wirke. Aber er hat geschrieben, er vermisse mich.
‚Miss you like crazy, soulgirl.' Ich seufze. Also beruht das Ganze auf Gegenseitigkeit. Dann kann ich auch gut aussehen. Ich schmunzle in mich hinein.
In einem petrolfarbenen Kleid und halbhohen Sandalen tigere ich anschliessend in meiner Wohnung auf und ab und schiele immer wieder verstohlen aus dem Fenster. Um 20.40 Uhr fährt ein schwarzer Audi SUV vor. Das muss er sein. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ok, du hast es nicht in der Hand, versuche ich mich zu beruhigen. Es liegt bei ihm, wohin er mit seiner Ehe will. Ich raffe die Schultern und gehe runter.

„Hey, soulgirl." Als ich auf der Beifahrerseite einsteige, lächelt er mich liebevoll an. Er scheint nicht mehr genervt zu sein. „Hey", lächle ich zurück. Er löst den Blick nicht von mir und startet den Motor auch nicht. Er sieht mich einfach nur an. Ich kann seinen Blick nicht deuten. Es sieht aus, als würde es hinter seiner Stirn arbeiten.
„Möchtest du, dass ich wieder aussteige?" frage ich unsicher. Vielleicht hat er es sich anders überlegt.
„No way! Nein, nein," ruft er aus und startet jetzt den Motor, „ich war in Gedanken. Crazy times, crazy thoughts."
„Das ist wohl so", murmle ich, und wieder frage ich mich, was der Abend entscheiden wird.
Als er losfährt, bläst er die Wangen auf. Er wirkt angespannt.
„Wo fahren wir eigentlich hin?" frage ich kurz darauf.
„Wieder in ‚unser' Hotelzimmer. Paul hat es mir für eine Nacht gebucht. Morgen muss ich rechtzeitig weiter für die nächste Show."
„Ich weiss", antworte ich gedankenverloren.
„Ach ja? Stalkst du mich etwa?" Er lacht schelmisch.
„Schon praktisch, wenn die Tourdaten im Internet sind, ja", antworte ich lachend und er grinst mich breit an.
Beim Hotel angekommen klärt er mich auf, dass wir den Hintereingang benutzen und separat in die Suite rauf gehen werden. Ein Leben mit ständigen Vorsichtsmassnahmen, denke ich mir. Das ist schon eine Welt für sich. Und ich bin plötzlich mittendrin.
Ich betrete die 277 zuerst; er wird mir etwas später folgen. Das Erste, was mir auffällt, ist das Bett, das übersät ist mit seinem Krempel. Aber sogar Dinge aus dem Hotelzimmer hat er auf dem Bett platziert, zum Beispiel das Schreibpapier, das sich normalerweise auf dem Schreibtisch befindet. Man sieht kein Stück mehr von der Bettdecke. Während ich noch mit gerunzelter Stirn die merkwürdige Szene betrachte, höre ich hinter mir die Tür. Wieder haut mich seine Nähe um. Mann, denke ich fast verzweifelt, es ist zehn Minuten her, seit du ihm das letzte Mal so nah warst, was ist nur mit dir?
„Was ist denn mit dem Bett passiert?" hake ich nach.
Er schliesst die Tür und wirft seine Jacke auch noch auf den Bett-Berg.
„Well, ähm... Damit nichts passiert."
Ich verstehe augenblicklich.
„Oh", kann ich nur sagen.
Er lächelt verlegen und kommt langsam auf mich zu.
„Yeah, nun ja... Ich bin immer noch verheiratet und na ja... Ich dachte, so kann ich verhindern, dass... Also vielleicht..."
Ich nicke. ‚Immer noch verheiratet...' Ich zerbreche mir den Kopf über diese Formulierung.
Er steht mittlerweile dicht bei mir. Ich höre seinen schnellen Atem und auch mir klopft das Herz bis zum Hals.
„Wenn ich mit dir allein bin, kann ich mir nicht trauen", murmelt er und seine Augen funkeln gefährlich.
„Wenn wir darüber reden, wird es jedenfalls nicht besser", flüstere ich fast und gebe mir Mühe, normal zu atmen.
„You're right, soulgirl." Er grinst schief. „Lass uns wieder da drüben hinsetzen."
Er deutet auf die Sitzgruppe. „Wir sollten bei Wasser bleiben, was meinst du?"
„Wäre vielleicht vernünftiger", gebe ich zu.
Wir setzen uns einander gegenüber und blicken uns schweigend in die Augen. Ich versinke im irischen Ozean und mein Puls rast.

SoulgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt