Hallo Mister Krebs!
Du hast mein Haus besetzt. Genauer gesagt, meinen Körper. Klammheimlich hast Du Dir ein Zimmer in meiner linken Brust eingerichtet und es Dir dort bequem gemacht. Genau genommen seid ihr zu zweit dort eingezogen und habt euch breitgemacht. In ihren Milchgängen und überall dort, wo ihr auf diesem engen Raum Platz finden konntet. Ihr habt euch an ihren Wänden festgekrallt und nicht mehr losgelassen.
Trotzdem bleibe ich dabei Dich in der Du-Form anzuschreiben. Das macht vieles leichter für mich.
Allgemein nennt man Dich Brustkrebs. In Wirklichkeit hast Du aber viele verschiedene Namen; bestehst je nach Art und Beschaffenheit aus vielerlei Buchstaben und Zahlen. Immer anders.
Bei mir bestehst Du aus genau siebenunddreißig Buchstaben und zehn Zahlen. Das Ganze garniert mit ein paar Sonderzeichen und Klammern. Selbst wenn ich versuchen wollte alles am Stück auszusprechen, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch kenne ich Dich ganz genau; kenne alle Deine Buchstaben, Deine Zahlen und ihre Bedeutung.
Jeden einzelnen Buchstaben, jede Zahl und ihre Bedeutung habe ich hinterfragt, bis ich Deinen Namen verstanden habe.
Sowieso hinterfrage ich immer alles. Mein Notizbuch ist mein ständiger Begleiter und Karl-Peter! Auf dem Papier ist er mein Ehemann, für mich ist er so viel mehr. Er ist mein Partner, mein Kamerad und bester Freund; mein Liebhaber und liebster Kritiker. Er ist immer wieder derjenige, der mich nicht gegen die Wand rennen lässt, mich aufhält, bevor ich dagegen pralle. Mein Gefährte durch Dick und Dünn, in allen Lebenslagen. Mein Lieblingsmensch!
Wenn ich Fragen stelle, die man mir nicht beantworten kann, frage ich so lange weiter, bis am Ende hinter jeder Frage eine Antwort steht.
Angst ist hinderlich und Wissen ist Macht. Manchmal kann ich meine Angst aber nicht mehr im Griff behalten, seitdem ich weiß, dass Du bei mir eingezogen sein könntest. Aus diesem Grund muss ich mir auch etwas einfallen lassen. Ich will nicht zulassen, dass Du und meine Angst mich auffressen.
Da Dein Name so unaussprechlich ist, nenne ich Dich der Form halber Mister Krebs. Das ist keine Frage, es ist eine Tatsache. Ich will nicht, dass Karl-Peter mehr als nötig darunter leiden muss, dass Du es Dir bei mir bequem gemacht hast. Aber ich bin ehrlich! Ich weiß auch, dass die Angst, die Du in mir auslöst, dazu führen kann, dass ich aufbrausend und ungerecht werde, dass Tränen fließen und ich nicht immer so stark sein kann, wie ich es mir heute vornehme.
Man sagte mir heute, ich soll an mich denken, auf das achten, was mir guttut. Egoistisch sein. Aber das will und werde ich nicht! Ich will nicht, dass meine Kollegin Recht behält, wenn sie Dinge sagt, wie: „O Gott, dann verlässt dich jetzt dein Mann" oder in ihrem schnippischen Tonfall zum Besten gibt: „Na toll, dann wirst du dich jetzt verändern".
Das lasse ich nicht zu und das habe ich nicht vor. Ich mag mich! -Genauso, wie ich heute bin und Karl-Peter mag mich auch so. Sicher! - Glaube ich. Ein letztes Quäntchen Unsicherheit kann ich mir nicht versagen, denn ich weiß, dass meine Kollegin nicht gänzlich Unrecht hat. Es gibt sie, die Schicksale, wo es passiert, dass Menschen sich verändern. In diesen Lebenssituationen bewahrheitet sich der Spruch
„Augen auf bei der Partnerwahl".
Früher einmal, im Umgang mit meinen Kollegen, habe ich gelernt, dass man eher „Du Schwein" als „Sie Schwein" sagt. Distanz zu Dir zu wahren, wäre vielleicht besser, aber zurzeit ist es mir nicht möglich. Du bist mir nahe - zu nahe - und das macht mir Angst.
Ich kenne mich und ich glaube, es wird mir guttun ab und zu auch mal „Du Schwein" sagen zu können. Heimlich, damit es keiner mitbekommt. Wo es niemandem wehtut. Wo ich niemandem weh tun kann. Ein Grund, weswegen ich auch gerade hier sitze und diese Zeilen an Dich schreibe. Einen Brief, den ich im Anschluss fest verschließen werde, während Karl-Peter unsere Familie und Freunde anruft um ihnen das Ergebnis mitzuteilen. Ich denke nicht, dass es der einzige Brief bleiben wird, aber das werden wir sehen, wenn unsere Wege sich wieder trennen.
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Hallo Mister Krebs
RandomMein Beitrag zum Ideenzauber 2019 Veröffentlichte Kurzgeschichte. Sie hat das Thema Brustkrebs zum Inhalt. Zum einen, weil es sich um ein aktuelles Thema handelt, zum anderen, weil ich als ehemalige Betroffene über einen eigenen Erfahrungsschatz ver...