Begleitet vom allgemeinen Getuschel bahnte Jess sich einen Weg zu ihrem Tisch.
Sie spürte die Augen ihrer Mitschüler auf sich - neugierige Augen. Missbilligende Augen. Beleidigte Augen.
Verdammt. Sie hatte seit Tagen seltener als nur sporadisch auf die Nachrichten ihrer Freunde reagiert.
Wenn man mit gestandenen Kämpfern rang hatte man wenig Zeit, sich einen Roman aus den Fingern zu saugen.
Und jetzt war sie wieder hier.
Im Klassenraum.
Wundervoll.
Seuftzend ließ sie ihre Tasche auf den Boden knallen.
Im Stillen verfluchte sie ihre Mutter.
"Heyyy girl!", Chrissie sprang ihr von hinten um den Hals, "wo verflixt hast du gesteckt?"
Die Blicke der anderen wandten sich wieder ab, als hätte Chrissie einen unsichtbaren Bann gebrochen.
"Ähm... ich habe dir doch erzählt, dass..", zähneknirschend versuchte Jess, sich zu erinnern, welche Geschichte sie dieser Freundin kurz angebunden als Erklärung für ihre Abwesenheit geschickt hatte.
"Ich weiß, was du mir erzählt hast", mit ruhiger Hand zupfte Chrissie den Kragen von Jess Bluse zu recht.
"... und ich habe mir Sorgen gemacht", flüsterte sie mit ernstem Gesicht hinterher.
"Ach ja?", Jess runzelte irritiert die Stirn. Sie war sich sicher, irgendetwas unverfängliches geschrieben zu haben...
"Der neue Typ? Das ist nicht normal, Jess."
Welcher neue...
Ohhhhh!
Auf einmal blitzte die Erinnerung an ihre Nachricht wieder auf. Sie hatte Lisa, Chrissie und Jackie vorgegaukelt, einen neuen Freund in einer Stadt kennengelernt zu haben, den sie an ihren Fehltagen besuchen gefahren sei.
"Bist du dir bewusst, das du die letzten Wochen gar nicht hier warst? Also ich finde das echt ein bisschen shady, um ehrlich zu sein. Egal, was das für ein Typ ist, egal, wie toll er dir vorkommt, wenn er dich so vereinnahmt, kann das nicht gesund sein..."
Irritiert blinzelte Jess und rückte ein Stück zurück. Wieso machte Chrissie so ein Drama daraus?
"Hör mal...", setzte sie an.
"Ich weiß, ich weiß", fügte ihre Freundin beschwörend hinzu, "Ich weiß, dass ich mich nicht in deine Beziehungen einmischen sollte, aber ich mache mir Sorgen! Wir alle! Jackie und Lisa auch. Bitte", sie senkte ihre Stimme noch weiter, " wir finden das komisch, Mann!"
Verdammt!
Was sollte sie jetzt darauf sagen?
"Wir... ehm...", sie räusperte sich, "wir haben uns getrennt."
"Ja?", Chrissie richtete sich ein wenig auf, "oh gu.... oh... ähhh, ich meine, hrrm..."
"Schon gut", Jess seuftze etwas zu künstlich und zog ihre Hefte aus ihrer Tasche, "du hast Recht, er war ein Arschloch."
Zustimmen. Am besten einfach zustimmen.
"Willst du... willst du darüber reden?"
"Später vielleicht", Jess zuckte mit den Schultern, ohne ihre Freundin anzusehen, "hier ist ein bisschen... unpassend."
Und sie brauchte noch ein bisschen Zeit, um sich ein Beziehungsdrama auszudenken."Hey, Jess", wie ein Bündel glitschiger Seetang im Meer tauchte Jason aus dem Gedränge der Mensa auf, "lange nicht gesehen", seine Stimme hatte einen misstrauischen Unterton.
Jess presste ihre Zähne noch etwas fester aufeinander. Noch ein paar mehr von solchen Begegnungen heute, und sie fürchtete, ihr Zahnschmelz würde bersten.
"Du gehst mir immernoch aus dem Weg, nicht wahr?", vermutete der Junge vorwurfsvoll, "aber Jess, hör mir doch bitte wenigstens ein Mal zu, ich will doch nur..."
Kommentarlos tauchte Jess unter dem Arm eines anderen hindurch und balancierte ihr Tablett in die entgegengesetzte Richtung. Kein Nachtisch dieser Welt war es wert, dafür Seite an Seite mit Jason anzustehen.
"Jess! He, Jess!", rief er ihr hinter her, aber sie tat taub. Nicht heute. Oh nein. Der Junge war ja schlimmer als alle Vampire zusammen.
Endlich stolperte sie in den vergleichsweise freien Bereich der Esstischem. Hier war es zwar immer noch voll, aber man musste nicht mehr mit aller Kraft um jeden Atemzug ringen. Ihre Aufen wanderten zu dem gewohnten zweier Tisch, den Su üblicherweise für sich beanspruchte, und tatsächlich, da war sie.
Erleichtert steuerte sie ihre Freundin an.
"Ich frage mich, wer immer diese extra Stühle hier stehen lässt", begrüßte sie die andere Nachwuchsjägerin und kickte eine überflüssigen Sitzgelegenheit von der Stirnseite des Tisches aus dem Weg, bevor sie sich auf den anderen Stuhl, Su gegenüber, fallen ließ.
Endlich jemand, mit dem man vernünftig reden konnte.
"Was treibt dich denn wieder her?", die Stirn des Mädchens kräuselte sich unter ihrem schwarzen Pony, "ich dachte, du hältst Schule für Zeitverschwendung?"
"Tue ich auch", Jess schnaubte, "aber Mom hat es spitz gekriegt."
Missmutig stocherte sie in ihrem Salat: "diese Idioten haben ihr einen Brief geschrieben."
"War zu erwarten", Su rührte mit ihrer Gabel in der Masse auf ihrem Teller, die gerade genug Ähnlichkeiten mit Kartoffelbrei aufwieß um als solcher durchzugehen, herum.
"Wie bitte?"
"So etwas war zu erwarten", ihr gegenüber schob die ersten Bissen in ihren Mund, "du hast nicht wirklich geglaubt, dass sie dich einfach mit de Schuleschwänzen davon kommen lassen, oder?"
"Ich..."
"Erwachsene kommunizieren miteinander, Jess. Natürlich fällt es auf, wenn du überall fehlst, und natürlich benachrichtigen sie deine Mutter! So funktioniert das System."
"Aber..."
"Was, glaubst du, dass ihrgendeine unsichtbare Macht dich deckt? Plotarmor? Komm schon, man. Du weißt es besser."
Jess Mund klappte auf und wieder zu.
Sie hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter von ihrer Schwänzerei nichts erfahren würde. Wieso, das wusste sie auch nicht so genau.
Wahrscheinlich hatte sie auf die Inkompetenz der Lehrer spekuliert?
Ansonsten trugen die diese spezielle Eigenschaft ja auch so offen zur Schau, also warum nicht gerade dann, wenn sie es brauchte.
Wahrscheinlich war das dumm gewesen.
Verstimmt verschränkte sie ihre Arme.
Bescheuerte Lehrer.
"Also", Su inspizierte ihren Tellerinhalt etwas genauer, "Bitte sag mir diese kleine Episode hat sich damit erledigt."
"Was meinst du?"
"Du weißt genau, was ich meine."
"Das Schuleschwänzen?", Jess schaubte, "Die können mich alle mal, hier. Ich bin nur so lange hier, bis mir etwas besseres einfällt."
Und sie wusste auch schon, wo sie mit dem Brainstorming anfangen konnte.
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Batsong
VampiroWürde man Jess Leben beschreiben wollen, wäre das erste Wort, das einem einfallen würde, vermutlich "zufriedenstellend" oder auch "beneidenswert", je nachdem, wenn man denn fragen würde. Tatsächlich gibt es nicht viel, über das die Schülerin sich be...