"Wie bitte, was?", krächzend hustete Rat die Cola, an der er sich verschluckt hatte, wieder aus.
"Naja, wie seid ihr mit sowas umgegangen? Du kannst mir nicht erzählen, dass ihr parallel zu all dem hier noch zur Schule gegangen seid in meinem Alter. Und mir ist auch aufgefallen, dass keiner von euch zur Arbeit geht. Also wie macht ihr das?"
"Wir", Rat räusperte sich, "wir..."
Dann seuftzte er.
"Tut mir leid Jess. Vielleicht ein anderes Mal."
Vielleicht ein anderes Mal???
Hatte sie sich gerade verhört?
"Warte", sie stutzte, "heißt das, es gibt da eine Methode, die ihr benutzt, aber du willst sie mir nicht verraten?"
"Hm?", Rat tat, als habe er sie nicht gehört und bastelte an dem Deckel seiner Flasche herum.
"Aber, was ist mit meinem Training?" fuhr Jess aufgebracht fort, "Was ist mit all dem hier. Ich brauche die Zeit, um Fortschritte zu machen, dass weißt du doch!"
"Nicht unbedingt", Rats Stimme klang schleppend, als hätte ihm jemand einen Bleisack an die Lungenflügel gebunden, "Deine Freundin, Su, schafft es immerhin auch so. Sie ist auch um einiges besser geworden, obwohl sie morgens nie hier ist."
"Ja, aber...", Jess biss sich auf die Lippen. Sus Fortschritt war doch kein Maßstab!
"Hör mal", der Vampirjäger sah auf einmal ziemlich müde aus, "vielleicht solltest du dir das, was Kate sagt ein wenig zu Herzen nehmen. Es gibt mehr im Leben als die Jagd. Geh zur Schule. Treff ein paar Freunde. Schmeiß das nicht alles weg, nicht so früh."
"Was soll das heißen, nicht so früh?!?!"
Und was sollte das heißen, sie solle auf Kate hören?
Die Jägerin wollte sie doch nicht einmal dabei haben!
"Hör mal", brauste Jess aus, "Ich mache das hier hierfür! Ich trainiere seit Wochen, ich bin ständig hier, ich reiße mir den Arsch auf um bei der Sache mitzumachen. Ich finde, das mindeste, was ihr tun könntet wäre, mich dabei zu unterstützen!"
"Und das haben wir nicht getan, oder was?", merkte Rat säuerlich an.
"Nah, nicht..."
"Ok, Kleine", der Jäger erhob sich, "ich kann dir nicht sagen, wie du dein Leben zu führen hast. Das musst du selbst herausfinden. Und bis du das getan hast, musst du wohl oder übel alle Aspekte davon mit dir herumbalancieren..."
"Aber ich...", fiel Jess ihm ins Wort.
Hatte sie nicht ausreichend klar gemacht, was für ein Leben sie wollte? Das hier. Sie war auf das Dach dieser Scheune geklettert dafür, war das nicht Beweis genug? Was wollten diese arroganten Fledermausfänger denn noch sehen, bevor sie es ihr abnahmen?
"I will das hier!", betonte sie, uns unterdrückte den Drang, mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen.
Rat wirkte unbeeindruckt.
"Wir sprechen in einem Jahr nochmal", bemerkte er kurz, stand dann auf und machte Anstalt, den Raum zu verlassen. Im Türrahmen hielt er inne. "Wenn du lügen musst", gab er über die Schulter zurück, "bleib am besten so nahe an der Wahrheit, wie du kannst."
Hilfreich. Und überhaupt, in einem Jahr?
Verfluchter Kerl, was sollte ihr das helfen? Sie brauchte jetzt einen Weg, unbemerkt in der Schule zu fehlen, nicht in einem Jahr!
Empört öffnete sie ihren Mund, um ihm etwas hinterher zu rufen, aber der Klingelton ihres Handys unterbrach sie.
Verärgert zog sie das Gerät aus ihrer Tasche. Was war den jetzt schon wieder?
Auf dem Display blinkte Chrissies Name. Das wurde ja immer schöner.
Unverständlich vor sich hin grummelnd hob sie ab.
"Ja?", Jess Backenknochen schmerzten, als sie sich um eine fröhliche Stimme bemühte.
"Hey! Wo bleibst du, wir warten schon an der Pizzeria!"
Ach ja. Dar war ja noch etwas gewesen.
"Ich... ächm... ich bin schon auf dem Weg. Ganz kurz noch. Falscher Bus", sie lachte gezwungen, "dumm, ich weiß. Macht euch keine Sorgen, ich bin gleich da!"
Hervorragend. Jetzt würde sie auch noch bei einem Pizzaessen ihren michtexistenten Exfreund erörtern müssen.
Erschöpft blickte sie auf das Handy herab, das schlaff von ihren Fingern umfasst wurde.
Das hatte sie ganz vergessen. Nicht einmal eine Geschichte hatte sie sich ausgedacht. Und ihre Freunde würden sich sicher nicht mit vagen Andeutungen zufriedengeben...
Stöhnend rieb sie sich mit dem Handballen über die Augen. Ihre Wut war ganz plötzlich verraucht und ließ sie wie einen leeren Luftballon zurück.
Für einen Augenblick zog sie es in Erwägung, sich einfach hier auf dem kalten Betonboden zusammenzurollen, aber dann würde sie sich auch für diese weitere Verspätung eine Ausrede einfallen lassen. Wieso hatte sie diesem Treffen nur zu gestimmt?
Am besten fing sie an, sich Gedanken zu machen. Wer könnte dieser mysteriöse Ex gewesen sein, und welche seiner Eigenschaften könnte ihn zum Arschloch gemacht haben? Mal sehen..."Er war... groß", Jess lächelte tapfer in die Runde, die aus stirnrunzelnden Gesichtern bestand. "Groß und sah halt auch irgendwie gut aus... also, bis auf die Nase, die war so ein bisschen..."
Schief? Krumm? Hässlich?
Ein tauber Flaum hatte sich über ihre Zunge gelegt, als wäre ihr kleines Lügenmärchen daran hängen geblieben.
"...schief. Aber halt nicht so, dass es zu sehr auffällt, wisst ihr? Hrm. Wie dem auch sei, also, kennengelernt haben wir uns beim... Hrm, beim Bowlen..."
"Wann warst du denn Bowlen?", Jackie kaute am Ende ihres Strohhalms, "das haben wie doch mindestens seit einem Jahr nicht mehr gemacht."
"Ich, ähh... mit... mit meiner Familie. Letzten Monat, als mein Vater kurz zuhause war; zur Feier des Tages..."
"Du hast einen älteren Typen kennengelernt, während du mit deinen Eltern unterwegs warst?", rief Chrissie entgeistert aus.
"Naja, ja, aber Dad war auf Toilette, und Mom haben ihre Bowlingschuhe nicht richtig gepasst, also ist sie los, Neue holen... und dann war er halt da..."
Jess spürte, wie die Schweißporen in ihrem Nacken aufbrachen. Das war wirklich ein überaus unangenehmes Gespräch.
"Wir haben uns einfach echt gut verstanden. Es halt halt gefunkt", ihre Kieferknochen protestierten mit einem unangenehmen Ziehen gegen die anhaltende Grimasse. Sie hoffte, dass die anderen ihre Unbehaglichkeit mit Traurigkeit verwechseln würden.
"Wir haben dann Nummern getauscht , bevor Mum und Dad wieder da waren, und ja", sie zuckte etwas schief mit den Schultern, "dann haben wir geschrieben... und uns getroffen... und... er hat behauptet, er würde in den nächsten Monaten weggehen. Ein Auslandsjahr machen. Und ich mochte ihn echt, deswegen wollte ich möglichst viel Zeit mit ihm verbringen... also dachte ich mir, was macht schon das bisschen Schule. Für die paar Wochen ist das doch sicher verkraftbar?"
Jess senkte ihren Blick auf ihre Teller und stocherte künstlich in ihren Spaghetti herum. Das wäre geschschafft. Jetzt kam der finale Teil.
"Aber", sie sog theatralisch Luft ein, "dann kam raus, dass das alles nur Blödsinn war, eine einfache Methode, um mich problemlos abzuservieren, bevor seine Freundin aus ihrem Urlaub wiederkam!"
Chrissie schlug erschrocken ihre Hand vor den Mund: "Nein!"
"Doch", Jess seuftze schwer, "aber, was soll man machen."
Sie nahm einen Schluck Wasser, "Jetzt bin ich wieder hier. Ich hätte merken müssen, das an dem Typen was faul war. Das Arschloch kann mich mal. Was habe ich an Klatsch verpasst?"
Jackie und Lisa wechselten einen irritierten Blick.
"Das ist alles?", Lisa beugte sich vor, "sonst erzählst du doch fast einen Roman, wenn du einen Idioten sitzen lässt. Wie hast du's rausgefunden, das mit seiner Freundin? Und wie hat er reagiert, als du ihn konfrontiert hast?"
"Du hast ihn doch konfrontiert, oder?", warf Jackie ein, "du hast dich nicht einfach von ihm an die Luft setzten lassen?"
"Ich... ähh", Jess räusperte sich. Der Kragen ihrer Bluse schien sich mit einem Mal viel enger an ihren Hals zu schmiegen.
"Tja, also das...", sie hüstelte.
Würde es helfen, jetzt in Tränen auszubrechen? Konnte sie auf Kommando in Tränen ausbrechen? Vielleicht sollte sie es probieren.
"Siehst du nicht, dass sie nicht darüber reden will?", zischte Chrissie an ihrer Stelle zu den anderen beiden herrüber.
"Ja, genau, ich... hrrm... vielleicht ein anderes Mal", fing Jess den Ball auf und blickte trübsinnig auf ihren Teller.
"Unschöne Geschichte, wirklich. Vielleicht erzählt ihr mir lieber, was ich verpasst habe? Als Ablenkung?", sie lächelte hoffnungsvoll und wischte sich ihre feuchten Handflächen verstohlen an der Hose ab.
Manchmal beneidete sie Su wirklich darum, dass sich niemand ernsthaft darum kümmerte, was sie tat, wenn sie nicht in Sichtweite war."Ich habe Jess beim Italiener sitzen sehen", Kate nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, die drei Pizzakartons auf dem Tisch abzuladen, bevor sie mot der Tür ins Haus fiel.
Innerlich seuftzte Rat auf.
"Du ermutigst sie doch immer, ihr Leben draußen weiter zu leben, oder? Welche davon ist die mit Thunfisch?"
"Ich mag nicht, wie sie mit ihren Armen herumfurchtelt, wenn sie lügt", verkniffen reichte sie ihm die unterste Schachtel, "Ich meine, ist doch offensichtlich, dass sie Quatsch erzählt mit so einer Gestik, oder?"
"Worauf willst du hinaus?", Duke blickte von seinem eigenen Abendessen auf.
"Ich meine ja nur", Kate ließ sich auf die Couch fallen, "warum riskieren wir es mit ihr? Ich sag's euch, früher oder später endet sie als die Blutreserve von jemandem, und dann haben wir den Salat."
"Sie zeigt auf jeden Fall Einsatz, dass musst du ihr schon lassen", angewiedert beäugte Duke die Käsefäden, die sein erstes Stück Margherita hinter sich herzog, "gib ihr etwas Zeit."
"Wieso sollte ich?"
"Darum geht es, wenn du versuchst, anderen etwas gefährliches beizubringen", Rat griff nach seinem Wasserglass, "Du unterstützt diejenigen, von denen du glaubst, dass sie es schaffen können."
"Und das tust du?", Kate schnaubte, "das glaubst du wirklich?"
"Ja", zum ersten Mal an diesem Abend sah er sie direkt an, das glaube ich wirklich."
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Batsong
VampirosWürde man Jess Leben beschreiben wollen, wäre das erste Wort, das einem einfallen würde, vermutlich "zufriedenstellend" oder auch "beneidenswert", je nachdem, wenn man denn fragen würde. Tatsächlich gibt es nicht viel, über das die Schülerin sich be...