Ein weitere Minute.
Eine weitere Stunde.
Ein weiterer Tag
und eine weitere Woche.
Wann würde es aufhören?
Die Antwort war einfach: Niemals.
Ich saß auf dem kalten Stein, unter dem ich begraben lag und sah in die Richtung des Parkplatzes, der direkt neben dem Friedhof war.
Wann würde ich endlich weg können? Wofür hatte ich meine Hülle abgelegt? Nur um dann auf ewig hier an diesem trostlosen Ort festzuhängen? Auf ewig dazu verdammt zu sein, in die traurigen Gesichter meiner Familie zu sehen? Um in ihr trauriges Gesicht zu sehen? Womit hatte ich das nur verdient?
Ich hörte wie sich jemand näherte. Umdrehen brauchte ich mich nicht. An dem Geraschel der Steine, welche den Weg bildeten, konnte ich sie identifizieren.
Sie, die eine. Die eine, die immer einmal die Woche da war. Die eine, die nicht zu meiner Familie gehört und es auch nie wird. Ich hasse sie. Warum? Warum warst du nicht da? Wolltest du es? Denkst du, du wärst etwas Besseres als ich? Ich dachte, wir wären Freunde. Ich wollte dich doch nur noch ein letztes Mal sehen.
Dann stand sie vor mir. Mit einer Kerze und einem Feuerzeug in den Händen. Eine Zigarette lag auf ihrem Ohr. Kurz nach meinem Tod hatte sie aktiv damit angefangen. Woher ich das wusste? Sie erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Sie war bei uns bekannt als die Verrückte, die ein Grab mit ihren Problemen zumüllte. Sie zündete die Kerze an und stellte sie hin. Daraufhin war ihre Zigarette dran. Die gewohnte Routine begann.
Ich sah wie sie einen Zettel hervorholte. Es war wie immer ein neuer Songtext darauf geschrieben, der sie an mich erinnerte. Bis jetzt waren es meistens irgendwelche Lieder darüber, dass jemand auf einmal weg ist und die Zurückgelassene trauert. Nur kann ich leider nichts dafür, dass du nicht da warst. Nur ein letztes Mal.
Und plötzlich sah ich ihre Tränen. Es tut mir so leid. Ich weiß, dass diese Texte dich nie erreichen werden. Dass du nie in den Genuss der Melodie kommst und vor allem, dass du dieses schöne Leben nicht mehr leben kannst. Was würde ich dafür geben, dich noch ein letztes Mal zu sehen. Ich hätte da sein sollen, sprach sie schnell und schluchzte dazwischen, sodass es schwer war sie zu verstehen, Es ist immer so. Kaum bin ich einmal nicht da, geht alles den Bach runter. Könnte ich die Zeit zurückdrehen wäre ich da gewesen. Das gilt auch für die vielen Anderen, die ich auch nicht retten konnte. Doch bei dir wünsche ich es mir am meisten.
Sie versuchte sich zu beruhigen und las den Lyrics vor. Ich kannte das Lied schon. Doch es berührte mich ganz tief in meinem Herzen. Was war nur los mit mir? Sie war doch schuld. Sie war nicht da. Doch...woher hätte sie es wissen können? Woher hätte sie wissen können, dass sie der Schlüssel zu dem allen war? Woher hätte sie wissen können, dass sie meine einzige Hoffnung auf ein fortlaufendes Leben war?
Und auf einmal wurde mir klar, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte. Ich stieg vom Grabstein herunter und stellte mich vor sie. Hey ich bin hier. Ich bin hier, siehst du?, fragte ich, obwohl ich genau wusste, dass sie mich nicht hörte. Sie hörte nur die Stille dieses Ortes. Die Stille der Toten.
Ich schrie. Ich schrie so laut und deutlich, wie es mir möglich war. Ich schrie meine gesamte Frustration aus mir heraus. Doch sie hörte mich nicht. Keiner hört die Toten. Das durfte doch nicht wahr sein.
Es musste doch einen Weg geben, alles wieder gut zu machen. Ich richtete meinen Blick in den Himmel. Hey du. Du da oben. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte das nicht. Gib mir noch eine Chance. Nur noch eine, brülle ich und hoffte, irgendjemand würde mich hören. Doch keiner hörte mich. Keiner dort oben und keiner hier unten. Ich weinte ebenfalls. Bitte, kam es leise von meinen Lippen und ich ließ meinen Kopf sinken. Das hatte alles keinen Sinn. Ich war tot und ich konnte nichts daran ändern.
Ist das dein Wunsch?, fragte eine Stimme ohne Körper. Verwirrt hob ich den Kopf wieder.Ja mehr als alles andere auf dieser Welt. Ich hätte mein Schicksal nicht von ihr abhängig machen sollen. Das war ein Fehler. Ich will leben. Die Stimme schwieg. Panik machte sich in mir breit. Hatte ich meine Chance verspielt, als ich freiwillig aus diesem Leben ging? Nein das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Es musste anders sein.
HAST DU MICH NICHT GEHÖRT? ICH WILL LEBEN. Mein Kopf drehte sich in alle Richtungen. Auch in ihre. Sie sah immer noch auf den kalten Stein. Ich wünschte, du könntest leben, flüsterte sie und wischte sich ihre Tränen an ihrem Ärmel ab. Doch es kamen immer wieder Neue nach. Es brach mir mein Herz. Ich sah wieder in den Himmel. HEY. ICH WEISS DU KANNST MICH HÖREN. ES TUT MIR LEID. ICH WILL WIRKICH LEBEN. BITTE.
Doch wieder kam nichts. Ich fuhr mir durch mein Haar. War ich froh, dass sie bei mir war, sonst wäre ich durchgedreht. Solange sie da ist, habe ich Hoffnung. Das ist ihre Aura. Diese Aura hatte sie schon immer. Wenn man bei ihr war, vergaß man sein Sorgen. Sie vertrieb sie einfach mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Lächeln. Ein wahres Geschenk. Doch ich wollte nicht aufgeben. Ich sah zu ihr. Sie atmete noch einmal tief durch und machte Anstalten zu gehen.
Panisch sah ich sie an. Nein... nein... nein, nein, nein, nein, nein. Hey. Bleib stehen. Cora, rief ich und folgte ihr. Natürlich hörte sie mich nicht, doch ich gab die Hoffnung nicht auf. Sie musste mich irgendwann hören. Sie erzählte doch immer, dass sie die Zukunft sah, warum also auch nicht die Toten? Oder war das schon zu abgedreht? Egal.
Sie ging in Richtung Eingangstür. Das Tor, dass ich nicht verlassen konnte. Die Barriere, dich ich nicht wegschieben oder überwinden konnte. Ich stellte mich vor sie, doch sie ging einfach durch mich hindurch. Cora. Bleib stehen, rief ich erneut. Sie war schon an der Tür angelangt und öffnete diese. Ich rannte so schnell ich konnte. Doch ich war zu spät. Ich lief direkt in die Barriere.
Nein...NEIN, rief ich und schlug gegen diese. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein. HEY DU DA OBEN. MIR IST EGAL OB DU MICH ALS WÜRDIG EMPFINDEST ODER NICHT, ABER LASS MICH LEBEN. ICH WILL VERDAMMT NOCHMAL LEBEN. ICH WILL DURCH DIE STRASSEN GEHEN UND SPASS HABEN. ICH WILL LIEBEN. ICH WILL LACHEN. ICH WILL LEBEN, rief ich noch ein letztes Mal und schlug mit beiden Fäusten gegen die Barriere. Doch es passierte rein gar nichts.
Ich sah schon wie sie ihren Helm aufsetzte und das Moped startete. Ich begann wieder zu weinen. Ich schluchzte laut. All mein Frust kam aus mir heraus in Form von Tränen. Wie hätte ich auch denken können, dass so etwas möglich wäre. Ich war es nicht mehr wert zu leben. Ich habe meine Chance verpasst. Ich hatte eine und habe sie hingeschmissen. Was erwartete ich? Gnade? Mitgefühl? Einen alten Opa auf einer Wolke, der mich wieder herrichtete? Nein. Absurd.
Doch dann erstarb ihr Motor. Verwirrt sah ich auf. Sie nahm ihren Helm wieder ab und sah mich direkt an.
Bist du's?, fragte sie und ich konnte sehen, wie sie kurz davor war, wieder zu weinen. Ich sah mich um. Wen meinte sie? War das alles nur ein Streich? Dann muss ich dir sagen, das war nicht witzig, brüllte sie, kam auf mich zu und klatschte mir eine.
Sie konnte mich berühren. Sie konnte mich sehen und machte das mit verheulten Augen. Doch schon lag sie in meinen Armen. Ich hielt sie fest.
Nein, aber er war gnädig, meinte ich bloß und gab ihr einen Kuss auf ihr Haar. Sie nickte bloß und umarmte mich zurück. Ich konnte spüren, dass sie mich nie loslassen würde.
Nicht mal in ihren Träumen. Nicht einmal, wenn man sie mit einer Waffe bedroht. Nicht einmal, wenn ihr eigenes Leben auf dem Spiel stand. Und in diesem Moment realisierte ich, dass ich das Gleiche mit ihr machen würde.
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Ich will leben
Short StoryEin weitere Minute. Eine weitere Stunde. Ein weiterer Tag und eine weitere Woche. Wann würde es aufhören? Die Antwort war einfach: Niemals. Ich bin Tod, was soll ich da anderes erwarten? Ein alter Opa auf einer Wolke, der mich wieder herrichtete...