Teil 90-93

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Erstmal kaltes Wasser ins Gesicht und die Zähne putzen, dann würde ich mich schon besser fühlen, dachte ich zumindest. Aber so wirklich half das nicht. Ich ging in die Küche, wo mich eine gut gelaunte Ria begrüßte. „Guten Morgen, meine Süße. Alles gut mit dir?" „Hyvää huomenta", murmelte ich zurück. Mir war gar nicht bewusst, dass ich sie auf Finnisch ansprach. „Oh", lachte sie, "da ist aber jemand noch halb in Finnland geblieben." Dann musste ich auch lachen. „Ja stimmt, mit dem Herzen bin ich noch bei Samu in Helsinki", gab ich zu. „Hier trink erstmal einen Kaffee." Sie schob mir einen Becher hin, den sie schon für mich gefüllt hatte. „Willst du gleich zu Eurer Wohnung fahren, ich hab bis Mittag Zeit, dann muss ich zum Dienst in die Wohngruppe." Ria arbeitete in einer Wohngruppe mit behinderten Kindern zusammen. Sie hatte ein übergroßes Herz und schon immer eine soziale Ader. Wahrscheinlich hatte sie deshalb auch zu mir gehalten, obwohl ich sie wegen Tim so vernachlässigt hatte. „Ja, das wäre toll. Ein paar Sachen brauche ich schon und vor allen Dingen auch meinen Laptop usw." „Willst du gar nichts essen?" wollte Ria wissen. „Nein danke, irgendwie geht es mir heute Morgen nicht so gut. Ich habe keinen Hunger." Ria schaute mich nachdenklich an, sagte aber nur: „Na gut, du bist ja schon groß." „Ein Glück." Ich verzog das Gesicht und grinste. 

Nachdem ich mich auch angezogen hatte, setzten wir uns ins Auto und fuhren zu meinem alten Zuhause. Ich hatte schon die schlimmsten Befürchtungen, dass Tim vielleicht das Schloss hatte auswechseln lassen, aber dem war zum Glück nicht so. Vorsichtig öffnete ich die Tür, aber es war niemand da. Erleichtert atmete ich auf. Ich holte aus dem Keller zwei Umzugskartons, die noch vom Umzug mit Tim hierher übrig waren und packte in aller Eile die wichtigsten Sachen ein. Es war komisch, hier zu sein, aber es fühlte sich für mich gar nicht mehr nach Zuhause an. Ria half mir, die Kartons nach unten zu tragen. Das wäre schon mal geschafft. Inzwischen fühlte ich mich etwas besser. Wir fuhren wieder zu ihr nach Hause und luden die Kartons aus. Ich ließ erstmal alles drin, bis auf meinen Laptop, den packte ich aus. Ich fuhr ihn hoch und wählte mich ins WLAN ein. Es funktionierte. Ich checkte meine E-Mails und mein Herz setzte einen Moment aus. Ich hatte eine Nachricht von Tim.

„Hallo Anna, wenn du denkst, du kannst mich gegen diesen Möchtegern Rockstar austauschen, dann hast du dich geschnitten, ich bin noch nicht fertig mit dir. Tim" Ich zitterte am ganzen Körper und diese Angst kam wieder hoch und die ganzen Erinnerungen, wie er vor mir stand, mich anschrie und mich mit der Hand am Hals an die Wand drückte. Ich hatte Panik, stand auf und lief wie ein Tiger im Käfig in der Wohnung hin und her. Ich holte mein Handy aus der Handtasche und drückte auf Samus Kontakt in der Anrufliste. Es klingelte, es dauerte lang, bis er sich endlich meldete. „Moi, meine kleine Lady, schön, dass du anrufst, ich wollte mich auch gleich melden."..."Samu", schluchzte ich ins Telefon..."Ssscchhh, beruhig dich doch, sydämeni, was ist denn los?" „Tim", wimmerte ich, „er hat mir eine E-Mail geschrieben und der droht mir...Scheiße, Samu, was soll ich denn jetzt machen?" „Lies sie mir vor, Anna." Ich las, was Tim geschrieben hatte und Samu hörte zu. „Druck die E-Mail aus und nimm sie mit zu einem Anwalt", riet er mir. „Hab keine Angst, Anna, was soll er dir schon antun? Du bist bei Ria in Sicherheit. Such dir schnellst möglichst einen Anwalt und reich die Scheidung ein. Wenn du eine Wohnung gefunden hast, sag ihm nicht die Adresse. Ich versuche, dich so bald wie möglich zu besuchen, aber im Moment kann ich hier nicht weg. Mikko hat mir zwischen den Auftritten noch jede Menge Interviews und Radiotermine reingedrückt. Es tut mir so leid, Anna." Ich schluckte meine Tränen hinunter. „Ich weiß Samu, es ist ok, es ist dein Job." Ich versuchte, tapfer zu klingen, aber es gelang mir nicht ganz. „Sorry, dass ich dich mit meinem Problemen belaste. Ich will dich da nicht mit reinziehen." „Anna, ich liebe dich, du gehörst zu mir und wir stehen das gemeinsam durch, ok?" „Ok", flüsterte ich. „Ich mache gleich heute nachmittag einen Termin beim Anwalt, ich schreib dir dann, was er gesagt hat." „Kopf hoch, kleine Lady. Du schaffst das, wir schaffen das und sprich mit Ria, hörst du?" „Mach ich, Samu." „Ok, mein Schatz, ich muss zum Soundcheck. Rakastan sinua." „Rakastan sinua, myös. Hei Hei", sagte ich und legte auf. 

 Nach dem Telefonat fühlte ich mich ein klein wenig besser. Ich setzte mich an den Rechner und schloß schnell die E-Mail von Tim. Ich tippte die Webadresse einer Suchmaschine ein und recherchierte Adressen von Anwälten, die auf Familienrecht spezialisiert waren und in der Nähe waren. Ich fand eine Anwältin, die sogar eine Notfallsprechstunde anbot und wählte die Nummer der Kanzlei. Eine freundliche Stimme meldete sich am Telefon. Ich schilderte ihr kurz mein Anliegen und bekam für 3 Stunden später einen Termin. Zum Glück, ich atmete auf. Dann schaute ich mir die Seiten mit den Wohnungsangeboten an. Tatsächlich gab es 2 Wohnungsangebote, die passen könnten und sogar bezahlbar waren. Ich rief gleich an und bekam zumindest einen Termin für den nächsten Tag. Die andere Wohnung war leider schon vergeben. 3 Stunden später saß ich in der Notfallsprechstunde der Anwaltskanzlei. Frau Dr. Scholz war auf Familienrecht spezialisiert und ich schilderte ihr, wie die letzten Monate mit meinem Ehemann verlaufen waren. Mir kamen schon wieder die Tränen. Sie reichte mir ein Taschentuch und erklärte mir freundlich, dass ich mir keine Sorgen machen solle und dass meinem Fall die Härtefallregelung greifen würde. Ausserdem würde sie bei Gericht eine „einstweilige Verfügung" gegen ihn erwirken, oder es zumindest versuchen, damit er sich mir nicht auf mehr als 100m nähern darf. Ich zweifelte und hatte Angst, wenn er davon erfahren würde, würde er wahrscheinlich erst Recht die Beherrschung verlieren, aber ich musste etwas tun. Frau Dr. Scholz sprach mir Mut zu, sagte, ich sei nicht allein mit meinen Problemen und ich könne sie jederzeit anrufen. Sie gab mir wirklich ein gutes Gefühl, bis ich die Kanzlei wieder verließ. Ich nahm die Straßenbahn und eilte nach Hause oder besser gesagt zurück Ria's Wohnung. Ich kochte mir einen Tee, schaltete den Fernseher an, um mich abzulenken und kuschelte mich aufs Sofa. Ich schrieb eine Nachricht an Samu, wie mein Termin verlaufen war und erzählte ihm von der Wohnungsbesichtigung am nächsten Tag. Er fehlte mir schrecklich. Gedankenverloren schlürfte ich meinen Tee und dachte an die letzten Tage zurück. Das Fernsehprogramm war stinklangweilig und ich beschloss, ins Bett zu gehen. Ich stöpselte mir Kopfhörer in die Ohren und schon klang Samu's warme Stimme in meinem Kopf. Ich zog mir die Decke bis unter das Kinn, des es war inzwischen echt kalt geworden und schlief ein. 

Irgendwann in der Nacht musste Ria vom Dienst nach Hause gekommen sein, denn am nächsten Morgen hörte ich sie in der Küche mit dem Geschirr klappern. Mir war irgendwie komisch und ich schob es auf den Hunger und den ganzen Stress, den ich in der letzten Zeit hatte. Mein Leben war irgendwie durcheinandergeraten und von einer auf die andere Sekunde hatte sich alles geändert, vielleicht sogar zu viel? Ich beschloss aufzustehen und wankte, oh Gott, mein Kreislauf sackte weg, mir wurde heiß und kalt, ich hatte Schweißausbrüche und mir war übel, echt richtig übel. Ich hielt mir die Hand vor den Mund und stürmte ins Bad. Ich schaffte es gerade noch so, den Klodeckel aufzureißen, bevor ich mich übergab. Ria kam ins Bad gestürmt. „Scheiße, Anna, was ist passiert?" Sie kam zu mir, um mir die Haare zurückzuhalten. Geduldig wartete sie, bis ich fertig war. Ich klappte den Klodeckel schnell zu, atmete einmal tief durch und wankte zum Waschbecken. Dort wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser, putzte mir die Zähne, um diesen widerlichen Geschmack loszuwerden und erschrak vor meinem eigenen Spiegelbild. Ich war kreidebleich. „Verdammt, Anna, was ist los mit dir?" „Ich muss mir wohl auf der Rückreise von Helsinki nach Hause irgendetwas eingefangen haben. Mir ging es gestern schon nicht so gut", vermutete ich. Ria sah mich eindringlich an: „Bist du schwanger?" Ich sah sie ungläubig an. „Nein, das kann nicht sein, Ria, wir haben immer verhütet. Samu hat jedes Mal ein Kondom benutzt, bis auf...", mir fiel es wie Schuppen von den Augen, meine Beine wurden weich und ich fing an zu zittern. „Scheiße....", flüsterte ich.

...save me once again... (Anna & Samu Teil 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt