Hinter meinen geschlossenen Lidern ist es schwarz. Alles rauscht in mir, doch ich versuche, mich auf die umliegenden Geräusche zu konzentrieren. Totenstille. Wie in einer geschlossenen Blase. Nur mein eigener Atem ist zu hören.
Nicht ein Windhauch zieht um meine Ohren und doch ist mir unglaublich kalt. So kalt, dass mein ganzer Körper vibriert. Ich presse mir eine Hand auf den Bauch, weil ich glaube, mich gleich übergeben zu müssen.
Mir graut es davor, die Augen zu öffnen. Aber ich muss. Immer hektischer atme ich, tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Dann wage ich es. Vorsichtig blinzle ich, blicke zuerst zu Liam. Er ist unverletzt und steht. Sein Adamsapfel bewegt sich, als er zu mir sieht und seine Haut ist kreidebleich. Sein Gesichtsausdruck ist hart und ohne Regung. Aber er lebt!
Ich würge und Magensäure steigt mir die Speiseröhre hinauf, doch gerade rechtzeitig kann ich verhindern, dass ich mich übergebe. Mit einem Ruck drehe ich meinen Kopf zu Harry. Die Spannung in meinen Muskeln löst sich, als ich auch ihn stehend sehe. Seine Augen sind jedoch weit aufgerissen, während sie wild über meinen Körper huschen. Das Gleiche mache ich bei ihm, doch auch an ihm entdecke ich keine Schusswunde. Harry lebt!
Dann bleibt mir die Luft weg. Warum starren sie mich so an? Wurde ich etwa selbst getroffen?
Als würde jemand die Blase um mich herum mit einer Nadel aufstechen, zerplatzt sie. Plötzlich höre ich auch wieder das Rascheln der Blätter und das Pfeifen des Windes. Panisch blicke ich an mir selbst herab, taste über meinen Bauch. Nichts. Ich stehe. Ich habe keine Schmerzen. Mir geht es gut und ich wurde nicht getroffen. Wie kann das sein? In meiner verschleierten Sicht habe ich doch einen Körper umfallen sehen. Und ich habe es gehört! Das Aufprallen eines Körpers! Oder?
»Was ...«, entfährt es mir, als ich den Kopf hebe. Aber dann sehe ich, wer getroffen wurde. Carter liegt mit angewinkelten Beinen auf dem Waldboden, in der ausgestreckten Hand noch immer die Waffe. Doch in seiner Stirn klafft ein Loch. Blut rinnt über sein Gesicht, ehe es hinuntertropft und in der Erde versickert. Er kann sich doch nicht selbst angeschossen haben, oder? »Ist er ...?«, hauche ich, woraufhin Liam langsam auf Carter zu geht.
Im Augenwinkel sehe ich jemanden auf uns zukommen, weshalb ich den Kopf hebe. Es ist Michelle, die in der einen Hand ebenfalls eine Schusswaffe trägt, in der anderen ein Handy, das sie sich ans Ohr hält. Dann kapiere ich es. Michelle hat Carter erschossen und uns somit in letzter Sekunde den Arsch und unser Leben gerettet. Ich schiele zurück zu Liam, der Zeige- und Mittelfinger an Carters Hals legt, doch schon nach wenigen Sekunden schüttelt er den Kopf. Carter ist tot.
Erleichtert schließe ich die Augen. Wir leben! Es ist vorbei. Carter kann uns nicht mehr quälen. Auch wenn mein erster Impuls ist, mich an Harry zu hängen, widerstehe ich dem Drang und komme stattdessen Michelle entgegen, die in diesem Moment das Handy zurück in die Tasche ihrer hautengen Lederhose schiebt. Ich öffne meine Arme, um sie innig zu umarmen. »Danke, danke, danke«, nuschle ich in ihren Pferdeschwanz, der mir ins Gesicht weht. »Ist doch selbstverständlich.«
»Nein, ohne dich wäre einer von uns jetzt tot.«
»Das hätte ich nicht zugelassen.«
»Wie hast du uns überhaupt so schnell gefunden?«
»Eigentlich habt ihr uns gefunden. Ich weiß nicht, aber ich glaube, Carter hat geahnt, dass ihr hier herkommt. Er ist abgehauen, weshalb ich ihm heimlich gefolgt bin. Zum Glück hat er mich nicht bemerkt. Na ja, und dann seid ihr aufgekreuzt.«
Irritiert löse ich mich von ihr, sodass ich ihr in die Augen schauen kann. »Du hast das ganze Theater mitbekommen und knallst erst ab, wenn er von drei runtergezählt hat?!«, fiepe ich. Michelle schmunzelt und zuckt mit den Achseln. »Ich mag's eben dramatisch.«
»Dramatisch? Spinnst du?!«
»Louis ...«, seufzt sie nun und lässt die Arme von mir herunterrutschen. »Auch wenn ich aus beruflichen Gründen schon das ein oder andere Mal die Waffe zücken musste, heißt es nicht, dass es mir Spaß macht. Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, lasse ich die Person natürlich am Leben. Außerdem hat der Macker sich die ganze Zeit bewegt. Ich musste erst eine Position finden, aus der ich sicher ihn und nicht euch erwische. Das Ganze ohne, dass er mich bemerkt.« Verstehend nicke ich einfach nur. Jetzt ist wohl weniger die Zeit zum Diskutieren.
»Danke, Michelle.« Harrys Stimme erklingt plötzlich hinter mir. »Das hätte auch schiefgehen können.«
»Ist ja nochmal gutgegangen. Ich habe gerade schon jemanden angerufen, der mir noch einen Gefallen schuldet. Der entsorgt seine Leiche. Zayn und Niall wissen auch Bescheid und sind auf dem Weg hierher, damit wir verschwinden können. Sobald meine Leute den Kerl weggebracht haben, geben sie der Polizei einen anonymen Hinweis, dass sich da unten noch Gefangene befinden.« Erstaunt hebe ich meine Augenbrauen. Was hat Michelle bitte für diese Person erledigt, dass er ihr so einen Gefallen schuldet? Das muss eine große Sache gewesen sein. Und woher weiß sie eigentlich, dass auf dem Anwesen noch mehr Leute gefangen gehalten werden? Außerdem hat mir noch immer niemand erklärt, wo sich dieses ›unten‹ befindet.
Ich komme nicht weiter dazu, darüber nachzudenken, denn als ich zu Harry schiele, würden meine Brauen am liebsten noch höher wandern. Dankbar lächelt er Michelle an, ohne noch etwas hinzufügen. Die Italienerin streicht sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr und grinst. Zum Glück weiß ich es besser, ansonsten würde ich jetzt vermuten, dass die beiden aufeinander stehen würden. Dem ist Gott sei Dank nicht so. Aber vielleicht hat Harry nun endlich auch den letzten Hauch Skepsis ihr gegenüber abgelegt.
Dann sieht Harry zu mir. Sein Blick schießt wie ein Pfeil in mein Herz, der eine Flut an Emotionen in Bewegung setzt, die ohne Umwege jede Zelle meines Körpers erreicht. Noch einmal spielt sich die erst wenige Minuten alte Erinnerung in meinem Kopf ab. Beinahe hätte Carter einen von uns umgebracht! Verdammt, wir waren dem Tod so nahe. Ich hätte nicht damit umgehen können, wenn es Harry getroffen hätte. Die Vorstellung allein lässt mich die Hände vors Gesicht schlagen, weil mir von jetzt auf gleich die Tränen kommen.
»Lou ...«, murmelt Harry, während er zu mir kommt, um mich in den Arm zu nehmen. Das bringt das Fass zum Überlaufen, weshalb ich laut schluchze. »Ich bin hier. Jetzt wird alles gut.« Flüsternd streicht er mir über die Haare, ehe er seinen Kopf an meinen lehnt. Kraftlos lasse ich mich gegen seine Brust sinken, um endlich wieder seine Wärme zu spüren. Er ist hier bei mir. Carter ist tot und kann uns nichts mehr anhaben. Alles wird so wie vorher, ohne dass uns irgendjemand quälen will. Endlich können wir wieder nach Hause. All die Anspannung der letzten Wochen fließt endlich aus meinem Körper.
Es dauert ein paar Minuten, bis ich mich beruhigt habe. Erst Liams Worte veranlassen mich dazu, mich von Harry zu trennen. »Unser Taxi ist da.« Mit einem tiefen Atemzug wische ich über meine Wangen, ehe ich in die Richtung schaue, in die auch Michelle und Liam blicken.
»Das ist nicht euer Ernst«, hauche ich. Michelle lacht und zuckt mit den Achseln. »Doch, meins ist dort hinten angebunden, so können wir immer zu zweit auf eines«, meint sie, während Niall und Zayn auf zwei riesengroßen Pferden angeritten kommen.
Super. Meinen ersten Ritt nach Harrys Befreiung habe ich mir ehrlich gesagt anders vorgestellt.
____
Hach, was soll ich sagen? Jetzt können wir endlich aufatmen ...
DU LIEST GERADE
Zatago III - [Larry-AU]
Hayran KurguTeil III von Zatago Verzweiflung. Laut dem amerikanischen Webster-Wörterbuch ist das der Zustand völliger Hoffnungslosigkeit. Doch wer denkt schon an die Bedeutung, wenn das Leben stattdessen Geld, Freiheit, Luxus und Liebe schenkt? Richtig - nieman...