Die Bücher der Toten

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Ich rannte durch den leeren Schulflur. Tränen strömten über meine Wangen und meine Hände zitterten. Niemand konnte die Worte zurücknehmen, die ich gesagt hatte und genauso wenig konnte jemand etwas verzeihbar machen, was völlig unverzeihbar war, denn ich hasste sie. Ich hasste meine beste Freundin weil sie mich langsam umbrachte, und das obwohl sie selbst tot war. 
Ihre Worte und ihre Taten hatten sich in mein Gehirn eingebrannt und mein Leben in meine persönliche Hölle verwandelt, schon vor dem Unfall. Sie zogen Schlingen um mein Herz und machten mir das Atmen schwer. Nach ihrem Tod, war es noch schlimmer geworden. Sie hatte Tagebuch geschrieben, das ihre Eltern mir nach ihrem Tod geschenkt hatte. Ihre geschriebenen Worte stimmten mit den gesagten überein, was mich noch einmal mehr verletzte. Es brauchte nicht viel, um dennoch Schuldgefühle und Ängste in mir aufbrennen zu lassen, die sich mit Leichtigkeit in Panikattacken verwandeln konnten. Heute hatte sogar ein Kommentar einer Mitschülerin schon gereicht um mich in die schlimmste Attacke meines gesamten Lebens zu bringen.
Meine Therapeuten kamen immer wieder auf meine Panikattacken zu sprechen, die wohl etwas mit meiner Depression zu tun hatten, aber noch nie hatte ich in ihren Worten eine wirkliche Wichtigkeit gesehen. Und jetzt, wo ich zum ersten Mal versuchte mich an ihre Worte zu erinnern, fiel mir nichts Hilfreiches mehr ein.
Ich versuchte es zurückzuhalten, aber die aktuelle Attacke wurde bloß immer stärker. In meiner Welt gab es für einen Moment nichts außer Panik und Hilflosigkeit. Eine Panik, die mich in den Wahnsinn trieb und eine Hilflosigkeit, die mir völlig fremd war. Ich schämte mich für meine Naivität und den Glauben an eine Welt, die man erklären konnte. Mein altes Ich war plötzlich verschwunden, endgültig. Nichts war mehr übrig von den bunten Farben, die mich am Wochenende zum Lächeln gebracht hatten. Es gab nur mehr die Asche, die mir klarmachte, dass die guten Momente längst ausgebrannt waren... 
Es ist unfassbar, wie weitgehend ein Moment und ein Mensch dich verändern kann. Ob es ein Unfall ist, der dein Leben berechtigt umkrempelt oder bloß ein Abend und ein paar Worte, macht schlussendlich keinen Unterschied. Man verändert sich. Ob man es will oder nicht.

Es war eigentlich eine unbedeutende Nacht gewesen, auf einem noch unbedeutenderen Dach. Ein Stockwerk tiefer tanzten die Menschen, sie lachten und benebelten ihre Sinne. Nur Cem und ich saßen unter dem Sternenhimmel und ich fühlte mich besser als je zuvor. Ich kannte nur seinen Namen und doch merkte ich, dass ich mich bei ihm wohlfühlte. Es ist naiv, so unfassbar naiv, denn trotz seines Versprechens eines Wiedersehens, hatte er mich vermutlich längst vergessen. Für ihn war diese Nacht nichts besonderes gewesen, ich hatte seine nächtlichen Alpträume wohl nicht durch Träume von Geborgenheit ersetzt und ihm waren meine Worte wohl auch nicht durchgehend durch den Kopf gespukt.

"Schau dir die Sterne an...", hatte Cem leise gesagt, "Sie scheinen so hell und sind doch nicht wichtiger als das Vakuum, das sie umgibt. Nur zusammen ergeben sie etwas besonderes. Sie sind ein Buch und jeder, der es nur früh genug versucht, kann es lesen. Alles steht in den Sternen geschrieben. Jeder Mensch, der zu früh von uns gegangen ist, sitzt da oben und schreibt letzte Worte an dich." Ich lächelte und legte meinen Kopf auf seine Schulter. "Lies mir was vor.", flüsterte ich in die Nachtluft. "Das kann ich nicht.", erwiderte er, "Ich kann deine Geschichten nicht sehen." Ich seufzte glückselig, bevor ich entgegnete: "Du wärst ein bezaubernder Geschichtenerzähler." Es dauerte etwas, bis er mir antwortete: "Ich meine das ernst. Lies die Sterne, sie können dir verraten verraten wer wirklich du bist." Ich wisperte leise: "Das musst du mir beweisen.", und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich wohl.

Ich stieß die Tür auf und sog die kalte Luft gierig auf. Ich wurde nicht langsamer, sondern bloß schneller, immer schneller. Ich lief, bis ich zusammenbrach.
Meine Knie gaben nach und ich stürzte auf die Straße. Wieder brach ich in Tränen aus und wieder schlug die Hoffnungslosigkeit erbarmungslos auf mich ein. Mein Atem ging rasselnd und meine Hände waren aufgeschürft und bluteten. Ich rappelte mich hoch und lehnte mich vollkommen erschöpft an eine Mauer. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, nur eine Frage wollte einfach nicht verschwinden: Warum lebte ich immer noch? Warum traf es mich noch immer so stark? Zitternd sah ich der Dämmerung zu, die die Fenstern der obersten Etagen in ein tiefes Rot tauchte, das nichts mit der Farbe meines Blutes gemeinsam hatte.

die Bücher der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt