Kapitel 4 - Nervenzusammenbrüche und andere Kleinigkeiten

115 14 7
                                    

In der Nacht um 2 werde ich wach und fühle mich schwach und leer. Im Bad klatsche ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und betrache mich. Meine Augen sind dick und rot, mein sonst typisch australischer brauner Teint hat einer ungesunden Blässe Platz gemacht, meine Lippen sind aufgerissen weil ich mir immer wieder drauf gebissen hab. Kurz: Ich sehe beschissen aus. Im Haus herrscht eine Hitze das ich es nicht aushalte. Leise schleiche ich die Treppen runter und bemerke dass in der Küche Licht brennt. Meine Mutter steht im Morgenmantel vor dem Kühlschrank und holt sich einen Jogurt. Stumm setze ich mich auf die Arbeitsfläche. Sie sieht mich an und weiß sofort was los war. Ohne ein Wort nimmt sie mich in den Arm und drückt mich an sich. „Wann war der letzte?", will sie wissen und drückt mich etwas weg um mich mustern zu können. „Drei Wochen und der vorletzte vor fünf Wochen, kurz vor dem Umzug.", murmle ich und weiche ihrem forschen Blick aus. Nach meiner Antwort wird sie etwas blass „Gracie, wenn du willst können wir dir hier einen guten Psychater suchen. Ich mache mir doch nur Sorgen um dich." „Nein. Du weißt, dass ich das nicht will. Sie sind nicht mehr so lange und ich komme gut damit klar. Lass es einfach, Mom. Es ist nicht dein Problem." Mit diesen Worten springe ich von der Theke und lasse meine Mutter allein in der Küche stehen. Mein erster Reflex ist es, wieder in mein Zimmer zu gehen. Aber irgendwie zieht es mich nach draußen an die frische Luft. Leise öffne ich die Haustür und setze mich auf die Hollywoodschaukel, die auf der Veranda steht die die Vorderseite unseres Hauses umgibt. Jetzt beginnt die nachdenkliche Phase: Ich überlege mir was ich ändern muss, wie mein Leben weiter laufen soll. Jedes Mal weiß ich, dass ich mich mehr öffnen muss und trotzdem ändere ich nie wirklich etwas. Doch heute ist es anders, ich denke die ganze Zeit nur darüber nach wieso Calum mich so hasst. Klar, ich bin definitiv komisch, launisch, stur. Aber noch nie hat mich jemand wirklich gehasst. Auf meiner alten Schule wurde ich nicht gemobbt, ich war halt einfach da und habe vor mich hingelebt. Zu Menschen die ich nicht kenne bin ich immer höflich. Also Calum Hood, wieso hasst du mich?

Irgendwann stehe ich auf und gehe ins Bett. Bis um 11 schlafe ich durch und bleibe dann noch eine Weile im Bett liegen. Dann stelle ich mich unter die Dusche, putze mir die Zähne und gehe runter in die Küche. Meine Geschwister sitzen alle im abgedunkelten Wohnzimmer und schauen irgendeine Serie. Ich mache mir ein Müsli und setze mich zu ihnen. Alle drei sind schon an meinen Nervenzusammenbruch gewöhnt, also lassen sie mir einfach meine Ruhe, was mir genau recht ist. „Steht heute irgendwas an?", frage ich in die Runde und stelle meine leere Schüssel auf den Wohnzimmertisch. Sofort strahlt Finn übers ganze Gesicht: „Mom hat gesagt dass wir heute in die Stadt gehen und ich krieg einen neuen Fußball! Cadie und Mom gehen shoppen und du wirst eh nicht mitkommen, oder?". Ein leises Kichern kommt aus der Ecke wo meine Schwester sitzt aber ich bin noch zu schwach um etwas zu sagen. Ohne ein weiteres Wort packe ich die Schale und verlasse das Wohnzimmer. Gerade als ich wieder in mein Zimmer verschwinden will, klingelt es an der Tür und ich drehe stöhnend um. Vor der Haustür steht ein grinsender Calum, dessen Miene jedoch schlagartig misstrauisch wird als er mich sieht. „Wir fahren heute in die Stadt, Cadie hat also keine Zeit dich anzubeten. Wie wärs wenn du dich solange mit irgendwem anders vergnügst und das am Besten für den Rest deines Lebens?", sage ich zuckersüß und schlage die Haustür zu. Gut, zugegeben, das war mies. Aber eigentlich wollte ich gar nicht so gemein sein. Da war nur plötzlich diese rießen Wut in meinem Bauch weil keiner je etwas mit mir zu tun haben will und immer alle meine Geschwister mögen weil ich ja dieser komische Freak bin der keine Freunde hat und die ganze Zeit nur liest. Wenn sich mal eine Person wirklich darum bemühen würde mich richtig kennenzulernen. Aber will ich das echt? Denn eigentlich fühle ich mich ganz wohl wenn ich allein bin, andererseits tut es weh zu sehen wie viel glücklicher Menschen sind die andere Leute haben die immer für sie da sind. Schon wieder fängt es an in meinem Kopf zu hämmern und ich muss mir Tränen verkneifen. Nein Grace, du bleibst jetzt einmal in deinem beschissenen Leben stark! Viel zu oft habe ich mich verkrochen, mich abgeschottet und einfach aufgegeben. Nur heute will ich einfach mal wissen wie es ist stark und mutig zu sein. Stell dich deinen Gefühlen aber lass sie nicht die Oberhand gewinnen, hat meine Mutter einmal zu mir gesagt. Und das werde ich. Wie eine normale Tochter werde ich mit in die Stadt fahren, dann gehe ich zu Mali und rede mit ihr, völlig egal über was. Und ich werde normal zu Calum sein. Mögen wird er mich wohl nie, aber Akzeptanz ist schon genug für mich.
Als meine Mutter wenig später heim kommt bin ich bereits fertig angezogen und geschminkt. „Ich komme heute mit in die Stadt.", verkünde ich und beobachte wie Mom kurz beim Auspacken ihrer Tasche inne hält. „Das ist schön, aber ich gebe nicht mehr als 40 Dollar für deine Bücher aus.". Grinsend nicke ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Sobald Cadie und die Zwillinge fertig sind fahren wir mit dem Auto in die Stadt und dort zu einem Einkaufszentrum. Dort wimmelt es von Touristen die begeistert jeden Laden knipsen. Zu Erst gehen wir in einen Sportladen, wo Will und Finn einen neuen Ball kriegen. Damit können sie rumalbern während wir Frauen nach Sachen suchen. Mit einer offenen Art und ohne alles gleich in Frage zu stellen ist echt schön Zeit mit der Familie zu verbringen. Mom kauft mir zwei neue Bücher, drei neue Hosen, ein Kleid für die Hochzeit einer Tante nächsten Monat und etwa 10 Tops, die alle stark reduziert sind. Cadie wird nicht fündig und ist dementsprechend gelaunt als wir nachmittags wieder daheim sind. Damit Mom nicht meckert räume ich die neuen Sachen gleich in den Schrank und schreibe dann Mali eine SMS ob sie Zeit hat. Wir haben sturmfrei. Komm rüber :-), kommt Sekunden später als Antwort. Schnell streife ich mir Schuhe über und gehe etwas unsicher zur Haustür von Familie Hood. Noch bevor ich es mir anders überlegen kann drücke ich auf die Klingel und prompt öffnet meine Nachbarin und Theoretisch-gesehen-Freundin die Tür. Lächelnd bittet sie mich herein und führt mich ins Wohnzimmer, wo schon Calum mit seinen Bandkollegen sitzt und darüber streiten welchen Film sie sehen wollen. Mit Ausnahme von Calum scheinen alle damit einverstanden zu sein dass ich hier bin. Eingeschüchtert setze ich mich neben Ashton und Luke, einfach nur weil sie mich so freundlich anlächeln. „Also ich bin immer noch für Evil Dead.", meint Calum und sieht jeden in der Runde an, wobei er mich gekonnt ignoriert. Michael lächelt mir zu: „Wie wärs wenn wir mal Grace fragen?". „Evil Dead ist gut, aber die neue Verfilmung ist besser. Sinister wäre auch eine Möglichkeit.", meine ich. Letztendlich entscheiden wir uns für Evil Dead. Ich habe kein Problem mit Horrorfilmen, aber Mali scheint nicht gerade begeistert zu sein. Sie setzt sich neben Michael und ich muss lächeln als sie sich bei der ersten gruseligen Szene ein Kissen vors Gesicht hält. Während der Film läuft unterhalte ich mich ein bisschen mit Ashton und wir machen uns lustig über die direkte Ausdrucksweise des Mädchens, das von Satan besessen ist. Nach dem Film setzen wir uns in den Garten, jeder trinkt ein Bier und wir lachen viel. Auch jetzt fällt mir auf wie viel mehr Spaß es macht wenn ich Menschen nicht ablehne. Im Laufe des Abends, es ist gerade etwas ruhiger, spricht Michael mich auf ein Thema an, dass ich hasse: „Wieso seid ihr eigentlich hergezogen?". Sofort schauen mich alle neugierig an und mir ist klar dass ich mit einer halbherzigen Antwort nicht davon komme. Doch mein Entschluss offen zu sein steht und der Alkohol lockert mich ein wenig. „Mein Vater ist ein ziemlicher Idiot. Er hat meine Mutter mit der Kindergärtnerin meiner Zwillingsbrüder betrogen. Das war der Ausschlag aber eigentlich war in unserer Familie schon lange nichts mehr in Ordnung. Ständig hatte er etwas an uns Kindern auszusetzen, wir waren ihm nicht gut genug in der Schule, die Zwillinge waren ihm zu wild. Wenn wir nicht gezogen haben wurde er sauer und hat uns lächerliche Strafen wie Hausarrest gegeben. Einmal durfte ich zwei Wochen nicht aus dem Haus weil ich eine 3- in Mathe hatte. Er hat darauf bestanden das Mom in die Arbeit geht obwohl sie mit vier Kindern schon genug zu tun hatte. Aber am schlimmsten war sein Egoismus und seine Geld-Gier. Geld hatten wir schon immer genug und trotzdem hat er so getan als ob wir arm wären. Selbst hat er sich ein Auto, Klamotten und Uhren gekauft aber wenn Cadie und ich mal ins Kino wollten war nie Geld da. Manchmal hatte ich das Gefühl das er mich hasst. Schon als Kind hat er ständig an mir rumgemotzt, dass ich nicht so dickköpfig und launisch sein soll. Aus Trotz habe ich mich immer mehr in diese Eigenschaften reingesteigert, nur weil ich wusste wie sehr ihn das aufregt. Ich habe angefangen Fußball zu spielen nachdem er mal gesagt hat das sowas nur ein Sport für Männer ist, ich habe mich abgekapselt als er meinte ich brauche mehr Freunde. Irgendwann war ich dann eine völlig andere Person und er fing an mich zu ignorieren. Man kann also sagen das mein Vater und ich uns nicht sehr nahe stehen.". Es herrscht Stille als ich fertig geredet habe und alle sehen etwas verunsichert aus. Sofort bereue ich es so viel gesagt zu haben, aber leider ist es jetzt schon zu spät. Mit einem Zug leere ich mein Bier „Ich hol mir schnell ein Wasser.", sage ich und eile ins Haus. In der Küche bleibe ich kurz stehen und beruhige mich ein wenig, schenke mir ein Glas Wasser ein und gehe wieder raus zu den anderen. „Das mit deinem Dad tut mir leid.", sagt Luke zu mir als ich mich hinsetze. Ich werfe ihm ein schiefes Lächeln zu und winke ab „Du kannst ja nichts dafür und naja, ich kenne es nicht anders. So lief es mein ganzes Leben also was solls.". Danach reden alle wieder normal miteinander aber ich halte mich diesmal zurück. Irgendwann streift mein Blick Calum und ich zucke etwas zusammen. Sein Blick ist voller Abscheu und gleichzeitig auch mitleidig. Kann mir bitte mal jemand diesen Jungen erklären?

Um 12 gehen Mali und ich in ihr Zimmer während die Jungs noch auf der Terrasse bleiben. Zu zweit legen wir uns in ihr großes Bett. Aber irgendwas an Calums Blick hindert mich am einschlafen. „Mali? Was hat dein Bruder eigentlich gegen mich?", rutscht es mir irgendwann raus und ich bin erleichtert als sie nicht antwortet. Doch leider ist sie noch wach und seufzt nach circa einer Minute. „Das habe ich mich auch schon gefragt. Vielleicht weil du so ehrlich zu ihm bist und nicht versuchst dich einzuschleimen. Aber ich glaube das ist nur die halbe Sache. Du erinnerst ihn an unseren Vater. Er und du, ihr habt eine Gemeinsamkeit: Ihr wurdet beide nie gut von eurem Vater behandelt. Und irgendwie hast du echt einiges gemeinsam mit Dad: Diese direkte Ehrlichkeit, der Sarkasmus, das viele Lesen und die Einsamkeit. Unsere Eltern haben sich getrennt weil Mom sich überflüssig vorkam, sie dachte, dass er lieber allein sein möchte und nur wegen mir und meinem Bruder bei ihr bleibt. Im Prinzip war es auch so. Jetzt lebt er eine Straße weiter und wir sehen ihn jede Woche aber Calum gibt ihm die Verantwortung für alles was schief läuft. Gib ihm etwas Zeit, er wird sich an dich gewöhnen. Er hat keine Wahl, immerhin sind wir jetzt Freunde.". Unweigerlich muss ich lächeln und nach diesen Worten kann ich endlich einschlafen.

________________________________
shailene woodley aka bae aka grace an der Seite :-)

Neighborhood    | c.h. / m.c. |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt