Grüne Lichtpunkte wirbeln wie Schneeflocken um mich herum. Mein Geist befindet sich in einem eigenartigen Dämmerzustand. Ich kann es nicht mal Schlaf nennen. Der wäre schließlich entspannend; wohingegen das hier schlichtweg entnervend ist. Mir kommt es vor, als würde ich durch eine andere, absolut groteske Welt streifen – und dabei nur nach einem Fluchtweg Ausschau halten.
Mein Begleiter auf der Reise durch diesen seltsamen Ort ist niemand Geringeres als der Offizier, der mich in meinen Träumen verfolgt. Carl von Liepnitz. Es fühlt sich falsch an, einen Namen zu dem Gesicht zu haben. Noch schlimmer ist jedoch der Umstand, dass wir ein kultiviertes Gespräch führen – zumindest soweit mir das meine begrenzte Bildung erlaubt. Denn von wesentlich mehr als den wenigen Büchern, die ich in meinem Leben lesen durfte, habe ich ja dank ihm nicht wirklich eine Ahnung.
Unvermittelt bleibt er stehen und legt mir eine Hand auf die Schulter. Die Geste hat beinahe etwas Väterliches an sich. „Warum verschwendest du dein Potential nur an diese Untermenschen?", fragt er mich. Auf seinem strengen Gesicht liegt ein einfühlsames Lächeln, die eisblauen Augen leuchten warm und einladend. „Du könntest es weit bringen, Elisabeth. Ich habe dich damals für etwas Großes ausgewählt."
„Ich will nicht in deine SS!", keife ich ihn an. Ich klinge wieder wie das 12-jährige Mädchen, das sich damals auf dem Appellplatz weigerte, sich seinem Willen zu beugen.
„Warum nicht? Weil wir die Bösen sind?", hakt er belustigt nach. Er redet mit mir wie mit einem bockigen Kleinkind, dem sein Vater versucht die Welt zu erklären. „Wer entscheidet schon, was gut und böse ist? Du weißt doch selbst, dass diese Kategorien von Moralisten stammen, die sie brauchen, um ihre eigenen Sünden zu rechtfertigen. Auf der Welt gibt es kein Gut und Böse. Es gibt nur Menschen, die Entscheidungen treffen müssen – und die werden ihnen oft von anderen Menschen aufgezwungen. Eine Aktion erfordert immer eine Reaktion. Wenn du jegliche Regeln missachtest, wird man dich bestrafen. Wenn uns Parasiten unterwandern, um uns unsere Lebensgrundlage zu nehmen, müssen wir sie ausrotten."
Ein kleiner Teil meines Gehirns, der noch halbwegs funktionstüchtig zu sein scheint, kann nicht umhin sich zu wundern, wie viel sich von diesem ideologischen Schwachsinn, den sie uns eingeimpft haben, in meinem Unterbewusstsein festgesetzt hat. Leider lauscht der weitaus größere Teil Carl von Liepnitz' Ausführungen mit kugelrunden Kinderaugen.
„Komm zurück. Komm wieder heim, Elisabeth", bittet er mich mit sanfter, einlullender Stimme, die immer eindringlicher wird. „Lis, wach auf. Lis... Lis, wach auf."
„Lis, verdammt, wach endlich auf!"
Das ist nicht mehr von Liepnitz' Stimme. Schockiert flattern meine Lider auf. Abrupt richte ich mich auf, sodass ich mit der Stirn beinahe gegen Auroras Nase stoße. Gerade noch rechtzeitig kann meine Mitbewohnerin zurückspringen. Vorwurfsvoll, wie eine Mutter ihr Kind, mustert sie mich und schüttelt den Kopf. „Hat dir mal jemand gesagt, wie eigenartig du manchmal bist?", blafft sie mich an.
„Verzeihung?", fahre ich sie an. Mein beleidigter Stolz übernimmt sogleich die Oberhand. Aber mein zorniger Gesichtsausdruck lässt sie diesmal kalt.
„Aufstehen, du bist spät dran!", ruft sie mir zu. Verwirrt reiße ich den Kopf in Richtung meines Weckers. Schon im nächsten Moment weiten sich allerdings meine Augen vor Schreck. Verdammt, ich bin erledigt!
Am heutigen Morgen darf ich mich an die guten alten Zeiten im Lager zurückerinnern. Zwar erging es uns nicht gar so schlecht wie den Gefangenen. Allerdings bekamen wir frühmorgens auch nicht wesentlich mehr als ein paar Minuten, um uns fertig zu machen. Bei sonst wie vielen Weibern in einer Baracke mit nur einem Bad ist das nun nicht gerade ein Vergnügen. Aber glücklicherweise erinnert sich mein Unterbewusstsein nicht nur an den Nazi-Quatsch, den es eingetrichtert bekommen hat, sondern auch an die ganzen routinierten Handgriffe.
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Strelok - Die Schützin
Historical FictionEine alternative Geschichtsschreibung: 1947 unterzeichnen das Dritte Reich und die Sowjetunion den Waffenstillstand von Moskau, womit der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende findet. Im Februar 1964 wird die 21-jährige Elisabeth in Sibirien als Agent...