Kapitel 1

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Noah

Fassungslos starrten Ryan und Jakob mich an. Genau dies war der Moment, vor welchem ich so verdammt Angst hatte.

Meine Eltern kamen gestern erst spät von einem langen Abendessen nach Hause. Beide mit ernsten Mienen und ich wusste sofort das etwas passiert war. Sie baten mich um ein Gespräch. Und als ich dann am Wohnzimmertisch vor ihnen saß und beide mir nicht recht in die Augen gucken konnten ließen sie die Bombe platzen.
Wir ziehen um.
In drei Tagen.
Ich war keines Falls begeistert von dieser Idee, aber was sollte ich tun? Mum hatte eine bessere Stelle angeboten bekommen und hatte ohne zu zögern, oder irgendwas mit uns abzuklären, zu gesagt. Für meinen Vater war das kein Problem. Seit ca einem Jahr arbeitete er im Homeoffice und könnte von überall aus arbeiten.
Jetzt stand ich hier und erzählte meinen besten Freunden, dass ich sie verlassen musste. Und ich zog nicht nur ein Dorf weiter. Ich zog auch nicht einfach in die nächst größere Stadt, irgendwo in der Nähe Hamburgs. Nein. Wir bleiben nicht einmal in Deutschland.
In drei Tagen würde ich in London England sein.

Ich guckte in zwei geschockte Gesichter und verzog meins ebenso. Ich war damit ja auch nicht zufrieden. Aber mich fragte ja niemand. Mein letztes Schuljahr konnte ich auch in London absolvieren, so die Worte meiner Mutter. Danach hätte ich noch bessere Chancen für eine Uni. Sie hatte ja recht, aber ein Jahr vor meinem Abschluss? Wirklich? Hätte sie damit nicht noch wenigstens dieses Jahr warten können? Ich hätte die Schule zusammen mit meinen Freunden abschließen können und danach selber entschieden ob ich hier blieb, oder mit nach London kommen würde. Aber meine Eltern waren deutlich. Ich wurde erst in vier Monaten 18 und alleine wohnen durfte ich bis dahin nicht. 
Ich hätte fast darüber gelacht. Meine Eltern waren damals so gut wie nie zuhause. Ich hatte die meisten Tage als Kind alleine gelebt. Und jetzt war ich fast erwachsen und sie hatten plötzlich das große Bedürfnis mich nicht mehr aus den Augen zu lassen?

„Das ist ein schlechter Scherz, oder?", fragte Ryan mich, doch ich schüttelte abermals den Kopf. Nein, das war es nicht, auch wenn ich es liebend gerne glauben würde. Ich hoffe seit gestern, dass das einfach nur ein Traum war und ich jederzeit wieder aufwachen würde und alles wäre normal. Ich wollte aufwachen mit dem Wissen, dass ich meine zwei besten Freunde nicht verlassen müsste. Ich wollte aufwachen, so wie es Gestern noch war und einfach mein Leben genießen.
Nicht in einer anderen Stadt.
Hier!
Bei meinen besten Freunden.

Ich kannte jeden Winkel dieses Dorfes. Orte wo man hin konnte, wenn es einem schlecht ging oder den schönsten Ort, bei welchem man auf das ganze Dorf hinunter blicken konnte, um den Tag zu genießen. Der perfekte Ort für ein erstes Date. Für einen ersten Kuss.
Aber egal wie sehr ich auf meine Eltern einredete, es würde sich nichts an ihrer Meinung ändern.
Ihnen war das egal. Man muss dazu sagen, wir hatten nicht das beste Verhältnis. Aber das kann man sich sicherlich denken. Meine Eltern konzentrierten sich nur darauf Anerkennung von außen zu bekommen. Wir wirkten wie die perfekte Familie, solange man uns nicht näher kannte. Wir hatten eine Menge Geld, viele Bekannte und ein hohes Ansehen in der besser betuchten Gesellschaft. Sie hatten hart dafür gearbeitet. Ich will das auch gar nicht in den Dreck ziehen. Sie haben wirklich viel dafür geleistet. Aber Geld ist nunmal nicht alles. Ich wurde immer darauf gedrillt mich gut zu benehmen, damit ich ihren Namen nicht in den Dreck zog. Ich war Einzelkind und eigentlich würde man jetzt denken, dass ich alles bekam was ich wollte, weil ich kein Geschwisterkind hatte, mit welchem ich mir etwas teilen musste, aber so war es nicht. Auch wenn wir das Geld für so ziemlich alles hätten was ich jemals gewollt habe. 
Jeder müsse hart für sein Geld arbeiten. Auch ich. So wurde es mir von Anfang an beigebracht von meinen Eltern. Was theoretisch auch gar nicht schlimm war. Ich konnte das eigentlich als relativ gute Eigenschaft sehen. Aber dadurch wurde meine Kindheit nur umso härter. 
Und Anerkennung für ihre Leistungen standen leider an erster Stelle. Auch über mir. 

Ich frage mich sowieso warum wir alle zusammen umziehen müssen. Konnte ich nicht einfach hier bleiben und meine Mutter zog dort hin? Alleine.
Bei Mum und Dad herrschte sowieso schon lange eine zum reißen gespannte Stimmung, da würde das auch nicht mehr viel ausmachen. Eine neue Umgebung würde daran sicherlich nichts ändern. Ich gebe ihnen mindestens noch ein Jahr dann sind sie sowieso geschieden. Ansehen hin oder her. 
Vier Monate. Ich hatte sie um vier Monate angefleht. Ich würde hier bleiben, von mir aus auch in einer kleinen Wohnung ziehen, das Geld dafür wäre ja da. Es würde für sie gar keinen Unterschied machen. Ich würde meine Schule beenden, mir einen Job suchen und selbständig leben.
Aber nein! Es musste jetzt sein! Alle zusammen. Typisch für meine Eltern.

„Das können sie doch nicht machen", meinte Jakob, „du hast doch nur noch ein Jahr Schule! Warum jetzt?"
„Ich weiß es nicht", sagte ich mit tränenerstickter Stimme. Ich blinzelte gegen die Tränen in meinen Augen an. Ich wollte jetzt nicht weinen. Ich war nicht schwach. Ich würde diesen Kampf gewinnen. Ich würde meinen Eltern diese Genugtuung nicht gönnen.
Aber ich konnte einfach nicht mehr. Die erste Träne lief mein Gesicht hinunter und ich schluchzte auf. Sofort merkte ich die starken Arme von Jakob und Ryan um mich. Ich fing hemmungslos an zu weinen und vergrub einen Kopf in der Halsbeuge von Jakob. Ryan fuhr mir über den Rücken und beide versuchten mich irgendwie zu beruhigen.

„Wir bleiben in Kontakt, wir sind doch Freunde für immer", murmelte Ryan und ich hob den Kopf.
„Wie soll das gehen?" Meine Stimme war leise und ich starrte ihm ins Gesicht. 
„Ich werde Kilometer weit weg sein! In einem völlig anderen Land. Nicht so, dass man mal eben zueinander fahren kann. Nein. Ihr müsstet Stunden fahren oder fliegen. Wie soll das gehen? Wisst ihr wie teuer das ist?"
Ich wurde immer lauter und wurde nun von Schluchzern erdrückt. Ich verkraftete das nicht. Mein Leben war hier, bei meinen Freunden. Nicht in London. Ich fand die Stadt unglaublich schön und ich wollte da schon immer mal hin, aber nicht wenn ich dafür meine Freunde verlassen musste. Nicht für so eine lange Zeit. Allein. Ohne sie. 
Ich weiß ich werde da neue Freunde finden, aber ich wollte die beiden behalten. Sie waren schon mein ganzes Leben da. Immer. In jeder Situation. Sie waren mein Leben. Sie waren meine Familie.

„Hey beruhig' dich!", sagte Jakob und schloss mich wieder in die Arme. „Du wirst es da toll haben, okay? Wir werden schreiben, skypen und wenn du dort mit der Schule fertig bist kommst du wieder."
„Oder wir kommen zu dir"
„Das ist ein Jahr, in den Ferien können wir uns besuchen. Wir haben uns doch geschworen, immer zusammen zu bleiben. Das werfen wir jetzt nicht einfach so hin! Hast du mich verstanden?"
Ich nickte langsam.
„So eine Distanz werden wir schon verkraften. Und danach sind wir alle wieder zusammen. Niemand kann uns auseinander bringen. Nicht mal deine Eltern"

Ich schloss kurz die Augen.
„Ihr seid die besten wisst ihr das? Danke" Ich lächelte. Ich wischte mir die letzten Tränen weg und stellte mich wieder aufrecht hin und löste mich aus ihrer Umarmung. Ich zog meine Schultern zurück und atmete tief durch. Ryan zwinkerte mir mit einem schiefen Grinsen im Gesicht zu. Mein Magen machte einen Hüpfer.
„Also Leute", Jakob grinste, „dann machen wir diese drei Tage mal zu den besten unseres Lebens, damit wir sie niemals vergessen. Und sie uns immer als die schönsten in Erinnerung bleiben. Das waren die Tage, an dem sich unsere Wege trennten, um nach einem Jahr wieder zusammen zu finden"

Ich schlug Jakob gegen den Arm und musste auch lachen. "Gott sei leise du Poet"

Original with you [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt