2.Kapitel Die Stimmen

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Jolly trieb durch ein Meer. Sie spürte wie das angenehm warme Wasser ihren Körper umspülte. Sie schwamm unter der Oberfläche und doch konnte sie atmen. Sie war gänzlich entspannt und lauschte mit geschlossenen Augen den Fischen. Sie lachte. Sie hatte vorher noch nie den Fischen zugehört. Machten Fische überhaupt Geräusche? Langsam öffnete das Mädchen seine meerblauen Augen und stellte fest, dass sie alles erkennen konnte, jede Einzelheit! Nicht wie sonst in den gemeinsamen Ferien an der Küste, wo sie unter Wasser immer nur alles verschwommen wahrnehmen konnte. Sie blickte an sich hinab. Sie trug ein Kleid. Doch nicht einen aus gewöhnlichem Stoff, es schien vielmehr aus einer Flüssigkeit gemacht, die sich in ständiger Bewegung um ihren Körper floss. Um sie herum schwammen Fische in allen Farben und Größen. Dort hinten war ein Schwarm winziger rotgelber Fischchen, die immer näher kamen um Jolly daraufhin neugierig zu umrunden. Sie kitzelten Jolly an den Füßen und einige saugten sich mit winzigen Mäulern an ihrem Körper fest. Dann kam ein großer türkisfarbener Fisch heran und die kleinen Fische verschwanden in den nahen Seeanemonen, doch Jolanda verspürte keine Angst. Sie tollte mit ihm herum und als sie müde war, hielt sie sich einfach an ihm fest und ließ sich ziehen. Sie sah eine wunderschöne Welt. Zwischen bunten Korallen tummelten sich Fische in so vielen unterschiedlichen Farben und Mustern, dass Jolly sich fragte, wie so etwas überhaupt möglich war. Sie entdeckte einen Fisch, der mit allen Farben des Regenbogens besprenkelt schien und es kam Jolly vor, als würde er, genau wie alle anderen Meereslebewesen, sie beobachten. Und hatte dieser feuerrote Seestern ihr nicht grade mit einem seiner fünf Arme gewunken? Nein, das konnte nicht sein. Doch warum eigentlich nicht? Jolly musste lächeln. Plötzlich bemerkte sie, dass der türkise Fisch sie behutsam über einen tiefen Graben gezogen hatte. Auf einmal drangen aus der bodenlosen Tiefe herrliche Stimmen herauf, die leise sangen. Der Text war in einer fremden Sprache, doch Jolly verstand jedes der Worte:

„Was sich sucht, dass findet sich,
was sich braucht, dass bindet sich,
kommen wird die Rettung
uns zu retten vor Allem, was geschah.
Stützen und schützen soll 'n die Augen wunderbar,
uns vor aller künftigen Gefahr."

Was sollte das bedeuten? „Stützen und schützen soll 'n die Augen wunderbar, uns vor aller künftigen Gefahr." Jolly war ratlos. Wie sollten Augen jemanden beschützen? Während sie so verzückt der fremdartigen Musik gelauscht hatte, hatte sie gar nicht gemerkt, dass das Wasser merklich unruhiger geworden war und kein Fisch, bis auf ihren neuen Freund, mehr zu sehen war. Dann wurde Jolly wieder schwindelig und sie bemerkte, wie sich ihre Hand von dem großen Fisch löste. Sie versuchte ihn wieder zu ergreifen. Als sie blinzelte war der Fisch verschwunden. Nach einem weiteren Lidschlag konnte sie nichts mehr erkennen. Ihre Fähigkeit im Wasser zu sehen, war dahin. Sie konnte sich nicht mehr regen und sank unaufhaltsam und langsam in die schwarze und unendliche Tiefe.

Als sie erwachte, blickte Jolly in das bärtige Gesicht eines Mannes. „ Ahh, unsere kleine Patientin erwacht!" Jolanda versuchte sich aufzusetzen, doch der fremde Mann hielt sie zurück: „ Na na na!" sagte er und wedelte mit seinem Zeigefinger vor Jollys Gesicht herum. „Wir wollen doch nichts überstürzen!" Und schon sank das Mädchen wieder in einen tiefen, doch diesmal traumlosen, Schlaf.

Jolly schlug die Augen auf. Der Bärtige war nicht mehr da und alles war dunkel. Jolly rieb sich schlaftrunken die Augen und setzte sich behutsam auf. Sie konnte einfach nicht länger liegen bleiben. Wie lange ich wohl geschlafen habe? Fragte sie sich. Nach kurzer Zeit war ihr Kopf gänzlich entnebelt und Jolly war hellwach. Zum ersten Mal hatte sie die Gelegenheit dazu, sich Gedanken über ihren seltsamen Traum zu machen. Was wollten diese Stimmen von ihr? Wollten sie überhaupt etwas von einem einfachen Mädchen wie ihr? Auf einmal überkam Jolly das Gefühl, als ob ihr Leben einen neuen Sinn hätte: sie musste um jeden Preis zu diesen Stimmen! Aber wie? Plötzlich vernahm sie aus einer Ecke des dunklen Raumes ein Rascheln. „Al?" fragte sie ängstlich. „Mum? Dad?" „Ich bin es", hörte sie nun erleichtert die vertraute Stimme ihres Bruders. „Was ist passiert?", fragte Jolly. „Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich eine seltsame Musik gehört habe, als Dad den Brief geöffnet hat. Hast du sie auch gehört?" „Nein" sagte Al leicht verdattert. „Du bist einfach umgefallen. Dad hat sofort den Hausarzt geholt und als du dann nicht wieder aufgewacht bist, hat der dir eine Spritze gegeben und dich dann ins Hospital bringen lassen. Mum wäre fast gestorben, vor lauter Angst um dich!" „Was war in dem Brief, Al?", fragte Jolly eindringlich. Sie musste einfach wissen, was bewirkt hatte, dass sie in Ohnmacht gefallen war. Sie war sich sicher, dass es etwas mit diesem geheimnisvollen Brief zu tun hatte. „Nichts" sagte ihr Bruder und zuckte mit den Schultern. „Nichts?" wiederholte Jolly ungläubig. „Das kann doch gar nicht sein! Wer schickt denn einen Umschlag ohne Inhalt?" „Keine Ahnung! Es war kein Absender drauf. Da stand nur Amerika. - Nein Jolly, du brauchst gar nicht weiter zu fragen - Und du solltest jetzt schlafen. Es ist mitten in der Nacht!" „Nein", sagte Jolanda bestimmt. „Ich bin sicher, dass ich nicht mehr schlafen kann. Und außerdem muss ich dir etwas erzählen!" „Na dann schieß los, Schwesterchen!", antwortete Al erwartungsvoll und Jolly erzählte die ganze Geschichte von den Fischen, den Stimmen und dem ihr unerklärlichen Wunsch, um jeden Preis zu dem Gesang zu gelangen, den sie aus der Tiefe gehört hatte. Als sie geendet hatte brach der Morgen an. „Seltsamer Traum", murmelte Allan schläfrig. „Was er wohl zu bedeuten hat?" die beiden Kinder fühlten sich plötzlich furchtbar müde und schliefen erneut ein. Kurz darauf spähte die Mutter durch die Tür und dachte erleichtert: Wenn die liebe Jolly so ruhig schläft, ist bald bestimmt alles wieder in bester Ordnung und unser Leben kann wieder ganz normal weiterlaufen! Doch da irrte sich Mrs. Jane Hepcourse ganz gewaltig.

„Wo ist der Brief jetzt?", fragte Jolly einige Tage später ihren Bruder. Gestern durfte sie aus dem Krankenhaus und wieder nach Hause zurück. Und das tat ihr ganz bestimmt nicht leid: die große, dürre Krankenschwester war sehr unfreundlich gewesen und das Essen hatte furchtbar geschmeckt! Es war pappig und gelblich gewesen und Jolanda hatte sich nicht entscheiden können, ob es sich um Kartoffelbrei, oder um Fisch gehandelt hatte. Es war unglaublich langweilig und Jolly hätte alles dafür gegeben in ihrem eigenen kleinen Zimmer zu Hause zu liegen und sich von ihrer Mutter verwöhnen zu lassen.
„Ich glaube Dad hat ihn weggeschmissen. Er hielt das alles wohl für einen schlechten Scherz, ich ehrlich gesagt auch. Aber genau weiß ich das nicht. Wir waren alle viel zu sehr mit dir beschäftigt", antwortete Al schulterzuckend. „Wir müssen herausfinden wo er jetzt ist, koste es was es wolle!", stellte Jolly mit fester Stimme klar. „Ich kann doch mal die Lisa fragen, die putzt ja immer durch Dads Arbeitszimmer." schlug Al vor. Lisa war das Hausmädchen der Hepcourse'. Sie kam jeden Mittwoch und Samstag um zu putzen und zu kochen. Sie war eine mollige Frau mit einem runden Gesicht, auf dem fast immer ein Lächeln lag. Soweit Jolly wusste hatte sie einen Mann, aber keine Kinder und verdiente sich mit dem Geld, das sie bei der Familie Hepcourse einnahm, noch etwas dazu. Wenn sie nicht gerade Putzend durch das Haus lief, ging sie in einer der großen Fabriken arbeiten. Zehn Stunden am Tag. Weil sie aber öfters Probleme am Rücken bekam, konnte sie nicht die ganze Woche dort arbeiten, aber das fehlende Geld hätten sie und ihr Mann nicht verschmerzen können und so hatte sie angefangen, Jollys Mutter beim Haushalt zu helfen. Die beiden hatten Lisa sehr lieb gewonnen, denn sie war sehr freundlich und ließ sich immer wieder etwas Neues einfallen, womit sie die Geschwister belustigen konnte.
Jolanda und Allan besprachen sich noch eine Weile und dann stand der tollkühne Plan. Lisa sollte morgen, wenn sie wie immer das Arbeitszimmer des Vaters säuberte, heimlich auf dem Schreibtisch nach dem Brief schauen und ihm anschließend den Kindern bringen. Der Vater würde nichts bemerken, dachte sich die beiden, denn er war ja arbeiten. Und sie würden den Brief auch ganz gewiss zurücklegen, bevor der Vater heimkehrte.

Am nächsten Morgen konnten sie tatsächlich die brave Angestellte überzeugen, sich bei ihrem „Spiel", wie sie es nannten, zu beteiligen. Sie werden wohl keine bösen Absichten haben, sagte sich Lisa und willigte ein.
Als sie einige Stunden später mit dem Putzen fertig war und den Brief tatsächlich in den Händen hielt, wäre Jolly beinahe wieder ohnmächtig geworden, aber diesmal vor lauter Freude und Aufregung. Aber noch wagten die beiden nicht, den verzierten Umschlag zu öffnen. Keiner von ihnen wusste, was passieren würde und so beschlossen sie zu warten bis Mutter und Lisa fort waren und verwahrten den Brief sicher in der Nachttischschublade von Allan. Als nun Lisa nach Hause und die Mutter zu einer Freundin gegangen war, nahmen Jolly und Al den geheimnisvollen Umschlag erst einmal genau in Augenschein: das Papier war reich verziert mit grünlichen Ornamenten, die sich wie Schlingpflanzen um das gesamte Papier wandten. Das Papier an sich, war schneeweiß als ob es nie berührt worden wäre und ganz aus Perlmutt bestünde. Es fühlte sich jedoch an, wie das normale Papier, welches die Geschwister in ihren Schulheften hatten. Und doch war es seltsamer Weise sehr schwer und es fühlte sich leicht feucht an, obwohl es doch die letzten Tage auf dem Schreibtisch des Vaters verbracht hatte. Als Al Anstalten machte den Brief erneut zu öffnen, überkam Jolly ein Gefühl, das sie nicht zu deuten vermochte. Es war Angst und Furchtlosigkeit zugleich, Neugier und das Verlangen, den Brief zu verbrennen oder auf andere Weise zu vernichten. Und dann war der Brief geöffnet. In Jollys Kopf wurden wieder die Stimmen laut, die sie in ihrem Traum gehört hatte und sie spürte abermals, wie ihr der Boden unter den Füßen schwand. Sie krallte sich verzweifelt am Ärmel ihres wie vor den Kopf geschlagenen Bruders und versuchte sich mit aller Kraft wieder in die Wirklichkeit zu reißen. Doch alles drehte sich und sie merkte, wie auch Al neben ihr in sich zusammen sackte. Und dann wurde alles dunkel. Kein Laut, kein Gefühl, kein Licht.

Hi meine Wattpadder,
ich hab zu meinem letzten Kapitel zwar noch nicht so viel Rückmeldung bekommen (genauer gesagt gar keine ^^) aber ich dachte mir, das ich das nächste schon mal hochlade.

Viel Spaß noch

Eure jollyhepcourse :)

Bermuda  *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt