Part 5

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Lucy

Die Woche verging und kaum dass ich mich versah, war schon Freitag.
Ich hatte mir vorgenommen, dass Wochenende bei meiner Oma zu verbringen, um ihr ein wenig unter die Arme zu greifen.
Früher und auch heute noch war sie immer für mich da gewesen und auch für den Rest meiner Familie. Sie hatte immer ihre eigenen Bedürfnisse nach hinten gestellt, um für uns da zu sein und das sollte sie jetzt auch zurück bekommen.
Mum und Dad waren mit den kleinen sowieso dieses Wochenende nicht zu Hause, sondern besuchten alte Schul Freunde, die ebenfalls kleine Kinder hatten.
Da von vorne herein fest stand, dass ich keine Lust hatte mitzufahren, war es nicht schwer gewesen, sie zu überzeugen, dass ich lieber zu Hause blieb und am Samstag morgen dann mit dem Bus zu meiner Oma fuhr.
Jetzt saß ich im Bus auf dem Weg zur Schule und fuhr gerade an der Bushaltestelle vorbei, an der ich Henry kennen gelernt hatte.
Jeden Morgen, wenn der Bus an diesem Ort vorbei fuhr, musste ich an ihn denken. Es war schön gewesen , sich mit jemandem zu unterhalten, der nichts über einen wusste,bei dem es sich aber so anfühlte, als würde man ihn schon Jahre lang kennen.
Als der Bus an der Haltestelle in der Nähe meiner Schule anhielt, stieg ich zusammen mit den anderen aus und wir liefen zur Schule.
Ich beobachtet die kleinen Gruppen, die sich während unserem Weg gebildet hatten und fühlte mich mal wieder allein.
Wie gern hätte ich auch jemanden mit dem ich zusammen zur Schule laufen konnte , mit dem ich reden konnte, der mir einfach das Gefühl gab, nicht allein zu sein.
An der Eingangstür angekommen, drängelten sich mehrere Gruppen an mit vorbei, um so schnell wie möglich in das warme Gebäude zu gelangen und der morgendlichen Kälte zu entkommen.
Dabei stieß jemand seinen Ellenbogen in meine linke Seite, wodurch ein starker Schmerz meinen ganzen Oberkörper durchfuhr.
Schmerzerfüllt atmete ich ein und hielt meine Hand instinktiv schützend an meine Seite. Leider wollte der Schmerz nicht so schnell verschwinden und ich blieb kurz stehen.
Gleich würde der Schmerz wieder gehen. So wie immer. Nach ungefähr 2 Jahren hatte ich wenigstens das gelernt und mich mit den Schmerzen abgefunden.
Ich blieb eine Weile lang vor der Schule stehen und streichte behutsam über meine schmerzende Seite. Dabei fühlte ich genau die Spuren meiner Narbe, sogar durch meinen Pullover.
Aber auch ohne, dass ich darüber Strich, hätte ich gewusst, wo sich die Narben befanden.
Sie zogen sich von meiner linken Bauchseite bis zu meinem Rücken. Wieder erinnerte ich mich an den Schmerz von damals, nachdem meine Eltern mir erzählt hatten, was passiert war. Bis heute war mir dieser Moment in Erinnerung geblieben. Denn nicht der Schmerz meiner Wunde hatte in mir etwas zerbrochen. Sondern der Schmerz den ich gespürt hatte, als mir bewusst wurde, dass nichts mehr so sein würde, wie es vorher war. Dass sich unser aller Leben von nun an ändern würde. Dass ich daran Schuld war, dass ein anderer Mensch nie mehr zu uns zurück kommen würde.
Dass er für mich gestorben war und ich mich noch nicht mal bei ihm bedanken konnte.
Ich bemerkte, dass ein paar Tränen meine Wangen runter kullerten und wischte sie daraufhin schnell weg.
Es war zwar niemand mehr draußen, der mich hätte sehen können , trotzdem fühlte ich mich beobachtet und da ich mir vorgenommen hatte, nie wieder vor jemandem in Tränen auszubrechen, musste ich mich schnell wieder beruhigen und durfte mich nicht in diese Situation hinein steigern. Das hatte ich schon einmal getan und ganz sicher wollte ich diese Erfahrung nicht noch einmal erleben.
>Hey, Lucy. Alles ok? <
Ich fuhr zusammen, als sein Atem  meinen Nacken streifte und seine sanfte Stimme zu hören war.
Das konnte doch kein Zufall mehr sein.
Warum musste er mich immer aus heiterem Himmel überraschen, wenn ich gedanklich in meinen Emotionen versunken war?
>Hab ich dich etwa erschreckt? <
Ich drehte mich um und seine wunderschönen blauen Augen sahen mich aufmerksam an.
>Ein bisschen, aber ich war mal wieder in meinen Gedanken versunken und... <
Erst jetzt bemerkte ich, dass er nicht allein war. Neben ihm stand ein etwa 16 oder 17 jähriger Junge. Er hatte genau wie Henry schwarze Haare, blaue Augen, hohe Wangenknochen und perfekt geformten Lippen.
Jedoch war er etwas kleiner als Henry, seine schwarzen Haare waren kürzer und nicht nach oben gestylt  und ich konnte das besondere Leuchten in seinen Augen nicht erkennen.
>Lucy, darf ich dir vorstellen, dass ist mein<
>Bruder.<
Beendete ich seinen Satz.
>Woher...? <
>Schwarze Haare, blaue Augen, hohe Wangenknochen,ihr seid euch fast wie aus dem Gesicht geschnitten. <
>Ja, dass sagen viele. Aber Henry will nie wahr haben, dass ich fast genauso, wenn nicht sogar besser als er aussehe. Hat wahrscheinlich mit seinem Ego zu tun. Übrigens, ich bin Alex, schön dich kennen zu lernen. <
Ich musste schmunzeln. Henry's Bruder war mir sofort sympathisch.
>Ich bin Lucy. Freut mich auch, dich kennen zu lernen. <
>Lucy also... <
Er nickte langsam und während er seinen Bruder anschaute, breitete sich ein großes Grinsen auf seinem Gesicht aus.
>Alex, sag jetzt nichts falsches! <
>Nein, keine Sorge Bruderherz. Ich muss sowieso los. Wir sehen uns dann nachher. Bis bald Lucy. <
Ich schaute ihm hinterher, bis er hinter der Eingangstür verschwunden war.
>Findest du wirklich, dass ihr euch nicht ähnlich seht? <
>Naja, seid er seine Haare vor kurzem schwarz gefärbt und sie kurz rasiert  hat, kann ich es verstehen. Aber davor habe ich nie eine Ähnlichkeit gesehen oder ich wollte es nie. <
>Wie sah er denn vorher aus? <
>Seine Haare waren schulterlang und blond. <
Das Blond konnte ich mir zwar gut vorstellen, aber schulterlang? Irgendwie konnte ich mir darunter kein richtiges Bild machen, aber es war ja auch egal, wie er ausgesehen hatte oder wie er jetzt aussah. Der erste Eindruck war mir sehr sympathisch und ich konnte mir Henry und Alex gut in einer großen und glücklichen Familie vorstellen.
>Für uns war es immer wichtig, dass wir uns gut verstehen und zusammen halten und nicht, ob wir gleich Aussehen. <
So also, wie eine Beziehung zwischen Geschwistern sein sollte.
>Ihr steht euch sehr nahe oder? <
>Ja, und ich hätte mir auch keinen besseren Bruder wünschen können. Deshalb darfst du es auf gar keinen Fall falsch verstehen, dass ich es nicht so gern habe, wenn man sagt, wir würden uns ähnlich sehen. <
Ich nickte nur. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass es das beste wäre, ihn nicht zu fragen, warum er das so sah.
Die Vorklingel ertönte und ich wollte mich gerade von Henry wieder verabschieden, als er mir zuvor kam.
>Ich wollte dich noch fragen, ob du... dieses Wochenende noch was vor hast. Ich habe nämlich drei Karten für ein Konzert von Cupid  geschenkt bekommen und habe keinen anderen außer Alex gefunden mit dem ich dahin gehen könnte. Und da ich mich immer noch so schlecht wegen dieser Sache, du weißt schon, fühle,habe ich gedacht, ich könnte dich fragen, ob du eventuell mitkommen möchtest. <
Mit offenem Mund starrte ich ihn an, bis mir bewusst wurde, dass das ziemlich dumm aussehen musste und ich meinen Mund wieder schloss.
>Du lädst mich auf ein Konzert von Cupid ein? <
Meine Stimme war nur noch ein leises Flüstern.
>Wenn du nicht mitkommen willst, dann sag es einfach okay? Ich würde es dir auch nicht übel nehmen. Mit so einem verrückten Typen wie mir und seinem Bruder, würde ich auch nicht auf ein Konzert gehen wollen. <
>Was? Nein. Ich würde liebend gern mit euch auf ein Konzert von Cupid gehen. Wenn ihr mich wirklich mit nehmen wollt. <
>Ja, sonst hätte ich dich nicht
gefragt. <
Quietschend und voller Glücksgefühle umarmte ich Henry.
>Du weißt gar nicht, was du mir gerade für eine Freude damit machst. Cupid ist meine absolute lieblings Band! Ich wollte schon immer auf ein Konzert von ihnen gehen!<
>Also um 20 Uhr müssten wir losfahren, wo muss ich dich
abholen? <
Ich löste mich wieder von Henry und schaute ihm in die Augen.
>Wann sagtest du, ist das Konzert? <
>Morgen Abend. <
Meine Freude verschwand.
Morgen war ich bei meiner Oma. Und auch wenn ich ihr abgesagt hätte, hätten meine Eltern niemals zugelassen, dass ich irgendwo auf ein Konzert gehe, wenn sie nicht da sind.
>Oh nein. Morgen kann ich nicht. Meine Eltern sind das Wochenende über nicht da und ich bin bei meiner Oma um ihr zu helfen. Sie hat sich vor kurzem den Arm gebrochen. <
>Schade. Es hätte bestimmt Spaß gemacht, aber... <
>Es tut mir wirklich leid, Henry. Ich wäre liebend gern mit gekommen. <
>Alles gut Lucy. Ich kann dich ja verstehen, meine Großeltern liegen mir auch sehr am Herzen. <

Nachdem wir uns verabschiedet hatten und ich gerade so pünktlich zum Unterricht gekommen war, musste ich die ganze Zeit an Henry und das Konzert denken. Wie schön wäre es gewesen mit ihm und Alex einen schönen Abend zu verbringen, und das auch noch auf einem Konzert meiner lieblings Band?
Aber diesen Gedanken musste ich schnell wieder verdrängen. Ich hatte meiner Oma versprochen zu ihr zu kommen und mal abgesehen davon, dass ich meine Eltern nicht mehr fragen konnte, da sie schon heute morgen losgefahren waren, hätten sie mich sowieso nicht hingehen lassen.
Also musste ich die Situation so wie sie war akzeptieren und das beste daraus machen.

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