Und dort saß sie nun. Nur wenige Meter von mir entfernt und doch spürte ich, dass sie nicht mehr in meiner Welt lebte.
Sie saß auf unserer Treppe. Unter ihr lag der blutrote Teppich der Treppenstufen. Ihr Haar so golden und strahlend gelockt, hätte engelsgleicher nicht sein können, doch unwillkürlich musste ich feststellen, dass ich nicht so empfand und sie verunstaltet wahrnahm.
Ein Blutfilm verlief über das Gold und ihr Haar schien matt und stumpf. Zerzaust und verrückt stand es in alle Richtungen ab.
Sie saß dort und schaute mich ruhig und gelassen an. Schaute mich mit ihren grünen Augen an. So wunderschöne Augen, die so viel Hass ausstrahlen, was so schier unmöglich erschien.
Sie saß bloß dort in ihrer schwarzen Jeans und ihrem weißen Pullover. Schutzlos.
Geprägt von einem schlanken, zierlichen Körper, der jeden Augenblick zerbrechen konnte, doch den Anschein machte so stark zu sein, als würde er über Leichen gehen können.
So saß sie da. Still und ruhig und ich fürchtete mich. Ich fürchtete sie.
Ich sah wie sie ein Messer hielt und sie wie eine Furie ausschaute. Doch dies war bloß meine Einbildung, meiner selbstzerstörten Wahrnehmung oder trügte ich mich?Sie sah so rein und unschuldig aus und doch so dreckig und verdorben. Sah das noch jemand so oder bin ich jetzt diejenige, die verrückt ist?
Sie war krank und brauchte Hilfe. Doch niemand gab ihr die Hilfe, die sie benötigt hätte.
Wie konnte eine kleine, junge Gestallt bloß so mitgenommenen und alt aussehen?
Sie war hübsch, keine Frage. Ein Engel auf Erden. Sie schien weiße prächtigen Flügeln auf dem Rücken zu tragen. Doch um sie herum, umgab sie ein dunkler Schein und befleckte das reine Weiß mit der strahlenden Farbe des Todes.Es war kein Wunder, nur eine Frage der Zeit bis es soweit war, wie es war. Etwas anderes hatte ich nie erwartet. Welche verlorengegangene Puppe versuchte eine andere Puppe, die in unendlich viele zersprungene Einzelteile, wieder zusammen zusetzten?
Das Ergebnis wäre das selbe wie zuvor.Ich hätte sie vielleicht retten können. Doch ich hatte schon viel zu lange gewartet als das sich etwas verändert hätte.
Sie war meine Tochter und sie sah wie ein Racheengel aus. Ich hatte sie erschaffen. Der Racheengel und ihr gefallener Meister.
Sie war mein Racheengel. In ihren Augen lag der Hass, den sie so lange gezürnt hatte für diesen einen Augenblick und endlich war er da. Der Augenblick.
Alles zu zerstören, was sie so zerstört hat.Nie mehr zurück blicken; auf all die Verwesung der Vergangenheit. Denn in diesem Moment wurde es mir bewusst. Wie Drachenschuppen fiel es mir von den Augen und meine blinden Augen erkannten es. Nein, sie und unser Schicksal.
Vergangenheit wird uns einholen und Asche wird Asche bleiben. Ich akzeptierte es. Nie hätte es anders kommen können. Nein, unmöglich.Unendliche Traurigkeit lag in ihren Augen. In meinem Spiegelbild. Oder war es meine Traurigkeit, die sie widerspiegelte? Ihr Blick verharrte hinter mir. Sie kämpfte. Kämpfte in einer inneren Schlacht, die über Leben und Tod entscheiden würde. Eine Entscheidung, die ich nicht mehr treffen konnte. Eine Verantwortung, welche ich nicht übernehmen wollte.
Sie konnte gar nichts dafür. Die Schuld traf mich. Mit voller Wucht. Es war mein Versagen und ich hatte bekommen, was ich verdiente. Denn sie tat, was sie tun musste. Musste das ausüben, wozu ich sie erzogen hatte.
Das kalte Metall berührte mich. Ob sanft und zögernd oder mit Aggression und Wille, war mir nicht mehr bewusst. Es liebkoste mein Herz. Einmal, zweimal, dreimal. ich hörte auf zu zählen. Die Lebensenergie verließ den warmen Körper und zierte ihren Pullover.Ich sah es ihr, auch in meinem trunkenen Zustand, an. Eine Mutter kennt ihr Kind. Ihre Blicke waren so leer, wie sie sich fühlte. Wie betäubt taumelte sie an mir vorbei in das Zimmer hinter mir. Stieg über Leichen. Nicht zurück blickend ließ sie mich liegen. Keine Reue, doch sie weinte. Sie weinte so viel, dass sich die Badewanne füllte und ich wusste mit meinen letzten Gedanken, dass sie Erlösung finden würde.
Sie war doch mein kleiner Engel. Mein Racheengel, dem nicht mehr zu helfen war. Ich wusste sie würde es tun.
Ein Stich ins Herz und die Wanne füllte sich mit der Farbe der Liebe, des Lebens und des Leidens.
Wir beide waren umhüllt in dem betörend süßen Duft von Verwesung und der Wärme des Todes.Und das erste Mal seit unendlich langen Jahren, hatten wir wieder etwas gemeinsam.
Wir starben.
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Mein Racheengel
Short StoryNur noch einen Atemzug weit von Glückseligkeit und Geborgenheit entfernt.