Part 6

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Lucy

Den ganzen Tag über hatte ich meiner Oma bei ihren angefallenen Hausarbeiten geholfen, war mit ihr einkaufen gegangen und hatte für uns gekocht.
Jetzt spülte ich noch das Geschirr, das letzte was ich heute noch tuen würde und die einzigste Arbeit, die noch liegen geblieben war,ab.
Ich freute mich schon darauf gleich einen schönen entspannten Abend zusammen mit meiner Oma zu verbringen, auch wenn ich viel lieber woanders gewesen wäre.
Aber wie schon gesagt, ich musste das Beste aus dieser Situation machen und einen Abend mit seiner Oma zu verbringen, war mit Abstand nicht der Weltuntergang.
Trotzdem musste meine Oma gespürt haben, dass mich ein gewisser Gedanke den ganzen Tag beschäftigt hatte, denn während ich noch fertig abtrocknete, fragte sie mich :
>Willst du mir nun endlich mal erzählen, was dir den ganzen Tag schon im Kopf rumschwirt? <
Ich blickte nicht zu ihr auf und trocknet weiter ab. Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken meiner Oma zu sagen, ich wäre lieber auf ein Konzert gegangen, als bei ihr zu sein. Wobei das noch nicht mal ganz stimmte.
Ich liebte es bei meiner Oma zu sein. Schon als Kind war ich jede Woche bei ihr gewesen, zusammen mit...
>Lucy, ich kenne dich jetzt schon 16 Jahre. Ich weiß doch, dass irgendwas mit dir los ist. <
>Darf ich mir nicht mal wegen ein paar Sachen Gedanken machen? <
>Wir wissen beide, dass du dir immer über irgendetwas Gedanken machst. Das liegt in deiner Natur.
Aber darauf will ich gar nicht hinaus. Ich merke doch, dass dich etwas anderes beschäftigt. <
>Das ist wirklich unwichtig Oma. Davon sollten wir uns nicht aufhalten lassen einen schönen Abend zu verbringen. <
Ich räumte das letzte Geschirr in die Schränke und deutete meiner Oma an ins Wohnzimmer zu gehen.
>Nein Lucy, erst wenn du mir sagst, was mit dir los ist, werde ich mich von diesem Stuhl erheben. Also los, raus mit der Sprache! <
Ich seufzte. Meine Oma konnte manchmal wirklich hartnäckig sein.
>Also gut. Gestern morgen wurde mir von einem... Freund angeboten mit auf ein Konzert meiner lieblings Band zu gehen. Da ich aber schon dir versprochen hatte heute her zu kommen und dir zu helfen, habe ich ihm abgesagt. <
Es war ein komisches Gefühl Henry als "Freund" zu bezeichnen, aber irgendwie gefiel mir die Vorstellung auch mit ihm befreundet zu sein.
>Wann ist denn das Konzert? <
>Um 20 Uhr. <
>Aha. Und wo liegt dann dein Problem, dass du nicht hingehen kannst? Ich meine es ist doch erst 18.50 Uhr. <
>Dabei gibt es gar kein Problem Oma. Ich habe dir versprochen mit dir den Abend zu verbringen,was ich auch immer noch vorhabe. <
>Nein, mein Schatz. Du hast mir angeboten mir bei meinen Hausarbeiten zu helfen, weil ich leider zur Zeit durch meinen gebrochenen Arm daran gehindert werde. Jedoch haben wir alle Arbeiten erledigt und somit... <
Ich schaute meine Oma ungläubig an. Sollte das etwa heißen, dass...
>Du meinst du hättest nichts dagegen, wenn ich auf das Konzert gehe? <
Meine Oma lächelte mich an.
>Natürlich nicht. Seid... Du weißt schon was passiert ist, bist du nie sonderlich viel weggegangen und wir beide wissen, dass... <
Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, unterbrach ich sie.
>Oma, bitte sag es nicht. <
Sie seufzte und sah mich lange mit einem betrübtem Gesicht an.
>Lucy, es ist doch schon zwei Jahre her. Wir alle haben uns damit abgefunden. Warum du nicht? <
>Weil der Satz "die Zeit heilt alle Wunden" bei mir einfach
nicht zutrifft. <
Ich hatte mich von meiner Oma abgewendet, ich konnte ihr einfach nicht in die Augen schauen.
Die letzten zwei Jahre musste ich immer wieder diese Art von Gesprächen führen.
Niemand, wirklich niemand hatte mich verstanden, als ich ihnen erklärt hatte, wie ich mich fühlte.
Ich wusste ganz genau, dass es eine Person geben würde, die mich verstanden hätte. Das Problem war nur, dass genau diese Person mich erst in diese Situation gebracht hatte.
>Lucy, ich weiß, dass ihr tief mit einander verbunden wart, aber... <
>Bitte Oma, hör einfach auf. <
Jetzt sah ich sie wieder an. Zwar konnte ich sie nur verschwommen wahrnehmen, da ich schon wieder Tränen in den Augen hatte, aber ich konnte ihr leichtes Nicken auch so erkennen.
Wenigstens verstand sie, dass ich nicht über dieses Thema sprechen wollte. Oder eher gesagt konnte.
Es war einfach viel zu schmerzhaft für mich.
>Ok, vergessen wir das und kommen noch mal auf das Konzert zurück.
Ich würde dir jetzt raten deinen "Freund" anzurufen und ihn zu fragen, ob das Angebot immer noch steht. Wenn ja, sagst du mir wo das Konzert ist, versicherst mir, dass dieser "Freund" vertrauenswürdig ist und dann kannst du los. <
Ich beachtete einfach gar nicht, wie sie "Freund" betonte und vor allem das verschmitzte Lachen nicht.
Es fühlte sich so an, als würde sie ganz genau wissen, was ich mit "Freund" gemeint hätte, doch ich wusste, dass es nicht stimmte. Henry war wirklich nur ein Freund, wenn überhaupt.
>Das ist wirklich nett von dir Oma, aber wir beide wissen, dass Mum und Dad mich niemals dahin gehen lassen würden. <
Sieh sah mich eine ganze Weile lang an, bevor sie weiter sprach. Das, was sie sagte, war jedoch so schwer für mich zu begreifen, dass ich sie bat, es noch einmal zu wiederholen.
>Wer sagt denn, dass deine Eltern davon mitbekommen müssen?<
>Oma...<
>Sie sind doch überhaupt nicht hier. Und wenn sie es, wodurch auch immer mitbekommen sollten, nehme ich die Schuld auf mich. <
Meine Tränen waren wieder verschwunden. Ein großes überglückliches Lächeln nahm dafür den Platz ein.
Freudestrahlend fiel ich meiner Oma um den Hals und bedankte mich tausend mal bei ihr.
>Und jetzt ruf deinen Freund an und sag ihm Bescheid! <
Mit einem riesigen Lächeln auf meinen Lippen und vor Freude quietschend lief ich ins Wohnzimmer und rief Henry an.
Vielleicht waren sie noch nicht los gefahren und konnten mich noch mitnehmen...

Henry

>Also, ich habe die Zündkerzen ausgewechselt und bin heute morgen auch schon eine kleine Runde mit ihm gefahren, es sollte also alles wieder im Ordnung sein. <
>Danke Opa, du bist der Beste. Ohne dich wüsste ich manchmal wirklich nicht weiter. <
Mein Opa lächelte mich zufrieden an und gab mir meinen Autoschlüssel wieder zurück.
Während ich um meinen Porsche Panamera 4 e-hybrid lief, strich ich sanft über die Karosserie.
Endlich würde ich nicht mehr mit dem Bus fahren müssen, konnte alles erledigen, wann ich wollte und war nicht mehr abhängig.
Ohne,dass mich irgendwer aufhielt, ohne, dass ich mir ein Fahrzeug mit anderen teilen und die Gespräche der Leute anhören musste.
Nein, bald würde ich nur noch das beruhigende Brummen meines Porsche hören und aus dem Augenwinkel die vorbei rauschende Welt wahrnehmen.
Endlich würde ich wieder frei sein und alle meine Gedanken in den Hintergrund verdrängen können.
>Warum musste Dad es auch vor meinem 18 Geburtstag tuen, sonst hätte ich womöglich
auch bald einen. <
Unser Opa fixierte Alex mit einem finstere Blick.
>Ist ja schon gut. Sorry, Henry. <
>Schon gut, du hast ja theoretisch Recht. <
>Naja, wenn er das, was er getan hat, nicht getan hätte,dann wäre es  wirklich unfair, aber so ist es das Mindeste gewesen, dass du
ihn behalten durftest. <

Meine Oma rief uns zum Essen und wir verließen die Garage, um uns auf dem Weg zur Küche zu machen.
Als wir zusammen am Tisch saßen und aßen, klingelte plötzlich mein Handy.
>Oma, Opa kann ich...? <
Beide nickten stumm und ohne auf das Display zu schauen nahm ich ab.
>Hallo? <
>Hi Henry. <
Lucy?!?
Sofort verschluckte ich mich.
Als ich ihr meine Nummer gegeben hatte, nachdem wir uns unterhalten hatten und ich ihr gesagt hatte, wenn sie jemanden zum Reden bräuchte oder irgendwas anderes los sei, könne sie mich jederzeit anrufen, hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie dies so schnell tun würde.
>Oh tut mir leid. Störe ich gerade? <
>Nein, absolut nicht. Was gibt's
denn? <
>Ich wollte dich fragen, ob ihr schon los zum Konzert seid. Ich habe eben mit meiner Oma gesprochen und sie hat mir erlaubt mit euch auf das Konzert zu gehen. Ginge das noch? <
Eigentlich hatten Alex und ich uns heute morgen dazu entschieden, doch nicht zum Konzert zu gehen. Oder besser, ich hatte es entschieden und Alex wollte nicht allein hingehen. Doch das änderte die Situation komplett.
>Nein, wir haben noch unsere Großeltern besucht, danach wollten wir erst los. <
>Also, könnt ihr mich noch mitnehmen? <
>Ja, klar. Gibst du mir noch die Adresse, wo ich dich abholen soll? <
Ich bemerkte Alex interessierten Blick auf mir ruhen, während Lucy mir die Adresse ihrer Oma durch gab.
>Okay. Rosenweg 19. Müsste auf unserem Weg liegen. Also bis gleich. <
Schnell sprang ich vom Tisch auf,nachdem ich aufgelegt hatte.
>Oma, Opa, es tut mir echt leid. Aber Alex und ich müssen jetzt los. Wir haben noch etwas vor. <
>Was denn? <
Alex sah mich verwundert an.
>Ich hab mich umentschieden, wir gehen doch zu dem Konzert. <

Nachdem wir uns von unseren Großeltern verabschiedet hatten, die Gott sei Dank vollstes Verständnis dafür gehabt hatten , dass wir kurzfristig gehen mussten, hatte ich mein Auto aus ihrer Garage geholt und wir waren losgefahren.
>Lucy hat angerufen, oder? <
Mann, mein Bruder kannte mich
echt gut.
>Jep. <
>Sie kommt doch mit, oder? <
Er kannte mich anscheinend zu gut.
>Jep.<
>Und du weißt schon, dass der Rosenweg ein riesengroßer Umweg ist ? <
>Ja, auch dabei liegst du voll und ganz richtig. <
Eine Weile sah er mich, ohne woanders hin zu schauen an.
>Weißt du was? Ich mag sie.<
>Hmm?<
>Wenn sie dich schon dazu bringt unsere kompletten Pläne um zu schmeißen um auf ein Konzert einer Band zu gehen, die du gar nicht kennst, 20 Kilometer Umweg für sie  fährst und du schon allein bei dem Gedanken an sie so lächeln musst, dann kann ich sie ja wohl nur mögen, oder? <
Ich sah kurz zu ihm rüber.
>Was erzählst du denn da?
Ich kenne Lucy doch überhaupt nicht. Außerdem ist sie gar nicht
mein Typ. <
>Und warum tust du dann das hier? <
>Weil..., das ist kompliziert und eine Sache zwischen ihr und mir. Aber auf jeden Fall hat es nichts damit zu tun, was du dir denkst. <
>Wenn du das sagst... <
Und damit war unser Gespräch beendet, auch wenn ich den amüsierten Gesichtsausdruck meines Bruders auch aus meinem Augenwinkel sehen konnte und mein Lächeln immer größer wurde, je näher wir das Haus von Lucy's Oma kamen.
Wir würden nie mit einander etwas anfangen. Das stand schon von der ersten Sekunde, nachdem ich ihr diese verrückte Idee vorgeschlagen hatte fest und das würde sich auch nicht ändern.

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