Ankunft
Wo mochte die Welt zu Ende sein? War es so, wie die Griechen sagten? Dass es gar kein Ende gab, da der Erdkreis kein Kreis sondern eine Kugel sei? Oder hörte sie dort auf, wo die Säulen des Herkules standen, dort am äußersten Eck Hispanias; und danach kamen nur noch die Wasser des großen Oceanus? Sulpicius seufzte. Dann fasste er das Pilum fester und trat energisch auf. Es lag noch ein halber Tagesmarsch vor ihnen und die Sonne brannte erbarmungslos. Es war schon verwunderlich, dass ihnen von kleinauf immer gesagt worden war, diese Gegend sei neblig und verregnet, so ganz anders als Italia. Und jetzt? Das Gegenteil schien der Fall zu sein. Wofür hatte seine Mutter ihm die warmen Wollsachen zur Ausrüstung gelegt, wenn sie nur sein Marschgepäck beschwerten und er sie gar nicht anziehen konnte? Er spuckte aus. Der Missmut stand ihm ins Gesicht geschrieben. Neben ihm stapften Falba und Tarquinus, der eine scheinbar unbeeindruckt, der andere offensichtlich genauso missmutig wie er selbst. Sie hatten vor vier Tagen die letzten Ausläufer der Alpen passiert und befanden sich jetzt links des großen Flusses, der ihre Welt von der Welt der Barbaren trennte. Hier sollte das Wetter zwar genauso trüb sein wie drüben, was es ja offensichtlich nicht war, aber ansonsten schienen die Menschen hier römisch zu leben, römisch zu denken, römisch zu sein. Und drüben? Was er von der Welt jenseits des Flusses gehört hatte, war nicht dazu angetan, sein Gemüt zu erhellen. Seit den Zeiten des längst vergotteten Caesars war alles Schlechte und Wilde von drüben gekommen, während die Bewohner diesseits des Flusses bereitwillig die Lehren der Zivilisation annahmen und dem Wilden in ihnen abgeschworen hatten. Während es in Rom schon lange gallische Senatoren gab, die einträchtig neben ihren italischen Amtsbrüdern saßen, lebten die Germanen immer noch in Stämmen und schmierten sich zum Zeichen ihrer Würde ranzige Butter ins Haar oder malten sich die Gesichter blau an – so hatte es Tarquinius zumindest von seinem Vetter Lusius gehört, der als Händler die Grenzregionen bereiste. Sulpicius schauderte bei dieser Vorstellung. Der Kompanie-Führer gab das Zeichen zur Rast. Falba holte den Zunder aus der Feldtasche und begann Reisig aufeinander zuschichten. Tarquinius füllte den Kochtopf mit Wasser aus einem nahegelegenen Bach und er selbst setzte sein Marschgepäck ächzend unter einem Baum ab und zog die kleine Getreidemühle hervor. Dann füllte er das ungemahlene Getreide aus einem Beutel am Gürtel in das Loch am Kopf der Mühle und kurbelte mit mechanischer Gleichförmigkeit. Es war ihm anzumerken, dass er es bereits viele hundert Male so gemacht hatte. Jeder Handgriff musste sitzen, schließlich war eine Stunde Rast nicht das Allermeiste, um die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen. Während er für Nachschub an Getreidemehl sorgte, schweiften seine Gedanken wieder zu den Germanen. Dies war auch nicht weiter verwunderlich, denn seit Neuestem waren sie abermals das beherrschende Thema in Rom. Seit der eine Sohn des vergotteten Vespasianus von Domitian abgelöst worden war, gab es in Rom kaum noch ein anderes Thema als die Bedrohung durch die Germanen. Während Vespasian seine Augen eher auf die Geschicke im Osten des Reiches gelenkt hatte und sein Sohn, der ebenfalls vergottete Titus, die seinen auf Italia ruhen ließ, was sicherlich mehr als notwendig war, fiel doch in seine kurze Regierungszeit von zwei Jahren der verheerende Ausbruch des Vesuv, der die Städte Pompeji und Herculaneum vollständig zerstörte, und viel Not über diese Region des Landes brachte, so suchte Domitianus, der Jüngste aus dem Haus der Flavier auf dem Platz des Princeps, wohl noch sein Herrschergesicht; nun hatten ihm wohl vermutete oder tatsächliche Unruhen im germanischen Siedlungsgebiet der Chatten auf rechtsrheinischer Seite die Möglichkeit dazu gegeben. Er würde sie nicht verstreichen lassen, soviel war sicher; der Titel eines neuen Germanicus versprach viel Ruhm. Und wer ihm den Ruhm beschaffen sollte, stand auch schon fest: Die Legionen VIII Augusta und XXII Primigenia sowie fünf weitere mitsamt ihrer Hilfstruppen. Und – Sulpicius konnte sich heute noch dafür ohrfeigen – er wurde mitsamt seinem Ausbildungsjahrgang direkt zur XXII. abkommandiert und durfte teilhaben am ruhmreichen Kämpfen seines Herrschers.