Schmerzhafte Erinnerungen (Teil 2)

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Der Zug rollte über einen auf dem Gleis liegenden Stein. Mayla wurde nun völlig aus ihrer Gedankenwelt gerissen, in der sie tief versunken war. Mit ihrem Ärmel wischte sie sich die Tränen, die auch schon auf ihren Beinen zu sehen waren aus ihrem betrübten Gesicht. Ihre schlechten Gedanken wirkten fast noch echter als die Realität, die sie jetzt genau vor ihren Augen erkannte. Ihre Familie, ihre Mutter, die sie in den Trümmern noch hatte finden können und ihre Zeit in dem kleinen, friedlichen Dorf waren Vergangenheit, sie musste versuchen in die Zukunft zu blicken, auch wenn diese nach dem Beben völlig aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Von ihren Gedanken und Gefühlen völlig hypnotisiert sprang sie auf und begann laut zu klagen, zu schimpfen und zu weinen. Dieses einsame Mädchen hatte keine Orientierung mehr, wusste nicht mehr wo hin. Ihr Rufen schallte bis in den Horizont und anschließend wieder zurück. Zero, der bis vor wenigen Augenblicken noch friedlich auf ihrem Schoß gesessen hatte schwebte ein paar Meter über dem Waggon und flog einige Kreise, bis er schließlich krächzend wieder auf den Kohleblöcken landete, die sich im Takt der Fahrt hin und her bewegten. Mayla konnte ihr Gleichgewicht nicht mehr halten, stolperte und stürzte wieder zurück auf das schwarze Gestein. In ihrem Handeln war kein Sinn mehr, in ihrem Leben war kein Sinn mehr und in ihr selbst lag nur noch ein Schatten von dem, was sie einst gewesen war und nie mehr sein würde. Sie rappelte sich auf und fing erneut an zu weinen, sie konnte gar nicht anders, denn die Lebensflamme in ihr war vollkommen erloschen. Sie saß auf den Überresten ihrer einsamen Seele. Ein stiller Schrei durchfuhr sie und rüttelte sie wach. Wieder so ein schlechtes Gefühl, eine Intention, die nichts Gutes vorraussagte. Es wurde still, totenstill, nicht einmal das Rauschen des Windes oder die Vögel waren zu hören, nur Maylas Atem.
Und dann kehrte sie zurück, diese zerstörerische Macht. Dieses Unheil von unermesslichem Ausmaß ließ die Erde erneut erzittern und versetzte jedes Wesen in Angst und Schrecken. Auch der Zug hatte jetzt keine Möglichkeit mehr in einer Linie weiter zu fahren und somit war auch der Waggon nicht mehr sicher.
Panisch zog sie die Angst von einem Wagenende zum anderen, doch es gab keinen Ausweg. Ihr Falke war immer noch in der Luft und selbst ihn schien das Nachbeben zu beeinflussen, denn er taumelte am Himmel umher, wie eine Fledermaus bei Tag, als würde dieses Naturphänomen extreme Verwirrung bei ihm auslösen. Obwohl dieses Beben erheblich schwächer war als das erste schlug es doch mit all seiner Macht zu, und es traf direkt ins Schwarze. Als der Zug in eine Kurve hinein rollte hielt das Gegengewicht eines Wagens nicht mehr stand. Ein ohrenbetäubender Lärm drehte seine beiden Bindungen quietschend um die eigene Achse. Die hinteren Wagen schoben sich gegen den Rostroten, der mit seinen eisernen Rädern Millionen von Funken in die Luft schoss während er sich immer weiter zur Seite neigte. Mit dem Brechen der Bindungen verlor der Waggon dann auch seinen Letzten Halt und stürzte mit einem gewaltigen Knall auf den sandigen und wenig vegetativen Boden, der mit dem Aufprall Erdbrocken und Steine um sich warf. Maylas Kohlewaggon schob sich gegen den Liegenden, wich etwas von den Schienen ab und neigte sich ebenfalls etwas zur Seite. Das Gewicht der beiden entgleisten Wagen brachte schließlich den ganzen Zug zum stehen. Der grüne Wagen, auf dem Mayla zusammengekauert in einer Ecke saß stand auf der Schwelle zwischen umkippen und stehen bleiben.
Im Sturzflug steuerte Zero nun direkt auf sie zu, packte mit seinem spitzen Schnabel ihr Kleid und zog ein paar mal fest daran, um ihr klar zu machen, dass sie schnell verschwinden müssten. Doch sie rührte sich nicht, sie war viel zu entsetzt über dieses nochmals erschreckende und depressive Erlebnis. Doch der Schreck verflog, als sich der Kohlewagen mit einem Ruck weiter zur Seite neigte, ihre Angst hatte Überhand genommen. Sie stützte sich auf ihre Knie und drückte sich dann langsam nach oben, bis sie dann auf ihren pechschwarzen Füßen stand und langsam einen Schritt nach dem Anderen auf den Grund setzte. Doch je weiter sie dem Rand kam, umso mehr neigte sich der Waggon nach links, denn er war zu einer lebensbedrohlichen Wippe und einer gefährlichen Situation für das junge Mädchen geworden. Sie verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Rücken. Es hatte alles keinen Zweck, sie musste so oder so da runter. Im Grunde genommen war ihr auch völlig gleichgültig, ob sie verletzt würde oder nicht, denn sie wusste, dass sie in ihrem Leben sowieso nie mehr glücklich sein konnte. Das Einzige, was sie dazu bewegte, über haupt noch um ihr Leben zu kämpfen war ihr neuer Freund, der ihr somit sogar schon das zweite mal das Leben gerettet hatte, wobei sie eigentlich immer noch nicht richtig begriff, wieso. Vielleicht sah er in ihr jemanden, den sie selbst in sich nur noch nicht gefunden hatte, vielleicht sah Zero, dass sie es wirklich verdient hatte, zu leben. Für ihn wollte sie versuchen, doch optimistisch zu sein, obwohl das vollkommen unmöglich schien. Der einzige Weg war, nach unten zu springen. Doch die Distanz zwischen dem Rand und dem Erdboden war unüberwindbar, ohne sich weitere Schäden zuzufügen. Mayla stand auf, schob langsam einen Fuß vor den anderen und lugte über die Wagenkante.
Sie setzte etwas zögernd zum Anlauf an. Mit großen Schritten näherte sie sich dem Rand, der Waggon neigte sich immer weiter. Zero sah besorgt auf sie herab und erkannte die Gefahr. Mayla erreichte den Rand und sprang...

Wie ein Vogel im SturmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt