In der Zeit vor der Zeit, als es noch niemand für nötig gehalten hatte, den Tag in Stunden und die Stunden in Minuten zu zerteilen, lebten Menschen, die in einem besonderen Zustand existierten. Dieser Zustand des vollständigen Einklangs mit den Gewalten der Natur öffnete ihre Augen für die besonderen Wunder der Welt. Diese Menschen wussten um alle Geheimnisse und glaubten, dass Drachen die Verkörperung der guten Geister der Natur seien. Der Drachen wurde zu jener Zeit gepriesen, als Hüter der Wahrheit und der Gerechtigkeit und als derjenige, der den Menschen das Geschenk des Feuers gebracht hatte, den Schlüssel zur Macht über die physische Welt und zugleich ein Portal in die Welt jenseits des Spiegels.
Doch große Macht bringt noch größere Verantwortung mit sich. Etwas das vielen Menschen fremd ist. Daher wurde die Macht des Feuers missbraucht, die segensreiche Macht dieses Elements wurde zur grausigen Waffe pervertiert. Als die Welt in Flammen stand, zogen sich die Drachen, in tiefem Bedauern und voller Sorge, von den Menschen zurück. Einige wenige Menschen, die das Geheimnis der Alten bewahrten, wussten noch um ihre Verstecke. In Stunden größter Not suchten sie sie in den tiefen Höhlen und unzugänglichen Schluchten auf, die ihre Heimat geworden waren. Sie wurden zu den Sprechern der Drachen, zu Vermittlern zwischen der Welt der Alten und der neuen Zeit. Diese Wenigen wurde immer weniger, immer seltener trat einer von ihnen mit einer Botschaft der Weisheit vor seine Geschwister. Die Menschen vergaßen den Glauben der Alten, die Drachen wurden von Freunden zu verhassten Symbolen des Bösen. In blindem Hass entfesselten die Menschen den Dämon des Krieges gegen die Drachen. Jahrhundert um Jahrhundert tobte die Schlacht zwischen der goldenen Vergangenheit und der finsteren Gegenwart.
Als der letzte Drachen erschlagen auf dem blutgetränkten Boden lag, als der letzte Atemzug seine Brust hob und sich die Augen des Letzten seiner Art für immer schlossen, da starb das alte, zeitlose Zeitalter mit ihm. Der Ritter, der ihn erschlug, wurde als Held gefeiert. Doch was ist das für ein Held, der nur vom Hass auf das gelenkt wird, was er nicht versteht? Ein solcher Held ist der Held einer Welt des Schreckens. Einer Welt, in der die Gewalt über die Weisheit zu siegen versucht. Es ist ein Held für diejenigen, die das Schwert anbeten und die Werke des Schwertes verkünden und verbreiten. Die Priester des Schwertes zelebrierten ihren blutigen Kult in den Jahrhunderten, die auf den Tod des Drachen folgten. Lauter als das Geschrei der Sterbenden, bestialischer als der Gestank der Schlachtfelder, tönte das Hohnlachen der Finsternis über die Welt.
Jahrhunderte vergingen darüber, dass die Menschen die Kunst der Selbstvernichtung zu immer größerer Meisterschaft brachten. Das Feuer, das ihnen einst Freund und Diener sein sollte, wurde zu ihrem Sklaven. Sie erkannten seine Anwesenheit in der Essenz des physischen Seins, lernten die innersten Bestandteile der Existenz zu zerschlagen und das Feuer in seiner reinsten Form zu entfesseln. Ein gleißender Blitz reiner Energie stieg an jenem Tag über den Horizont. Ein Licht heller als zehntausend Sonnen, aber doch nur fähig Dunkelheit zu bringen. Doch die Menschen, vom Dämon Hass geblendet, jubelten dem Schrecken zu. Sie feierten das Entsetzen und ersäuften ihr Gewissen im Rausch der Zerstörung.
Einige wenige Menschen, die kleine Schar, derer die wirklich begriffen was geschehen war, hielten an diesem Tag inne. Sie versuchten, zu begreifen, welchen Weg die Menschheit zu beschreiten gewagt hatte. Im Stillen, unbemerkt von den meisten anderen, begannen sie nach einem anderen, besseren Weg zu suchen. Sie fanden ihn zum Teil in den Schriften der Alten, aber vor allem in dem, was diese Schriften verschwiegen. Sie fanden den Schatten von etwas, das sie zunächst nicht verstanden. Die wahre Bedeutung, verborgen hinter den Worten. Ganz langsam schlug die zarte Pflanze der Erkenntnis, dass ein neues Zeitalter beginnen sollte, Wurzeln in den Herzen vieler Einzelner. Einzelner die langsam verstanden, dass sie nicht alleine waren, die eine neue, große Macht zu formen begannen.
Eine Weisheit, in uralter Zeit von einem Drachen zu den Menschen gesprochen, im Menschenherz bewegt und von Menschenhand in Stein gemeißelt, lautet: „Viele Tropfen füllen einen Ozean." Wenige Tropfen fallen als Regen zu Boden, versinken in der Erde und erreichen, oft nach langer Zeit, die geheimen Gewölbe der inneren Welt. Dort vereinen sie sich mit einigen anderen, brechen hervor zum Licht und bilden eine Quelle. Diese speist einen kleinen Bach, dieser wiederum einen Fluss, der irgendwo in einem gewaltigen Strom vergeht. Doch der Strom in all seiner Größe ist doch nichts anderes, als viele kleine Bäche, das Wasser zahlloser winziger Quellen. Eine Vielzahl weniger Tropfen. Selbst die Größe des Stroms vergeht zu nichts, die Majestät seines Deltas verblasst, vor der Allgewalt des Ozeans, der ihn schweigend in sich aufnimmt. Die unfassbare Weite des Meeres, Aufmarschplatz der Naturgewalten, mächtige Tsunamis und tobende Taifune. Eine Weite, die doch winzig und eng ist, gegen die Heimat des wahren Feuers. Das nukleare Inferno der Sonne, das die Quelle allen Lebens ist, sendet seine Strahlen unsichtbarer Macht, lässt den Ozean langsam verdunsten und den Kreislauf vollenden.
Die Drachen sahen für Äonen schweigend dabei zu. Beobachteten in schweigendem Verstehen den ewigen Kreislauf der Dinge. Sahen die Menschen aus dem Dunkel der Geschichte hervortreten und nahmen sich ihrer an. Doch wie so oft rebellierten die Schüler gegen ihre Lehrer und so verging das Friedensreich der Weisheit, um doch neu geboren zu werden, irgendwann, wenn die Zeit gekommen ist.
Aus einem winzigen Samenkorn wird ein gewaltiger Baum, irgendwann.
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Drachentränen
FantasyDrachen sind Teil der Legenden aus alter Zeit. Oft sind sie dort nicht böse, sondern gut. Was bedeuten diese Geschichten heute? Ein paar Gedanken dazu.