Eine eisige Flucht

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Brausender Wind tobte um sie herum und schien jeden ihrer Schritte hinauszuzögern, wie ein Gummiband, das um ihre Knöchel gespannt war und sie zurück in die Dunkelheit ziehen wollte. Sie blickte nach unten, auf das mittlerweile reglose Bündel in ihren Armen und zwang sich, weiter zu gehen.

Ihre Finger waren taub geworden, genauso wie ihre Zehen und Ohren und die beißende Kälte schien ihr Gesicht zu attackieren wie ein spitzes Messer. Sie hob den Kopf und suchte mit, vom eisigen Wind tränenden, Augen nach einem neuen Schild.

„Hier sollte es irgendwo sein.", dachte sie verzweifelt und drehte sich ein paar Mal auf der Stelle, um sich ein besseres Bild von ihrer Umgebung zu verschaffen.

„Nur noch ein paar Meter.", redete sie sich ein. Und es stimmte: Trotz der nächtlichen Dunkelheit und den Massen an Schnee, die ihr den Weg erschwert hatten, konnte sie in der Ferne den Eingang eines Krankenhauses ausmachen.

Mit einer zitternden Hand drückte sie gegen die Tür, während sie mit der anderen den kleinen Jungen, den sie in ihre Jacke eingehüllt hatte, weiterhin fest an sich drückte.

Die Wärme, die sie umgab, sobald sich die Tür hinter ihr wieder schloss, brannte förmlich auf ihrer Haut. Sie riskierte einen Blick nach unten. Bens Augen waren wieder leicht geöffnet, auch wenn er während des ganzen Weges zum Krankenhaus keinen Ton von sich gegeben hatte.

Unschlüssig stand sie da. Das Wartezimmer der Kinderambulanz war voll mit Müttern, die versuchten, ihr schreienden Babys zu beruhigen, Kindern, die sich ängstlich an ihre Eltern klammerten und ein paar Jugendlichen, die sich zwischen den Wachsmalstift-Zeichnungen an den Wänden und den kleinen Autos in der Spielecke nicht sonderlich wohl zu fühlen schienen.

„Kann ich dir helfen?", fragte eine Stimme zu ihrer linken.

Sie zuckte zusammen und riss den Kopf nach oben, um die soeben erschienene Person vollkommen in ihrem Blickfeld zu haben.

„Was ist denn mit dir passiert?"

Die Frau, die zu ihr gekommen war, hatte blonde Haare und trug blaue Arbeitskleidung, die mit lustigen Tierchen versehen war. Ihre Stimme klang besorgt, aber Emilie konnte nicht anders, als ein paar Schritte zurück zu weichen. Die Krankenschwester widerholte ihre Frage.

Emilie starrte sie nur verdutz an. Was mit ihr passiert sei?

„Meinem Bruder geht es ganz schlecht.", flüsterte sie.

Die Krankenschwester beugte sich über das Bündel in ihren Armen und winkte zugleich einer weiteren Schwester zu, die kurz darauf mit einem Rollstuhl herbeieilte.

„Was hat dein Bruder denn?" fragte die Schwester. Mit einem Blick auf das Namensschild, das an ihrer Kleidung befestigt war, konnte Emilie sehen, dass ihr Name ‚Birgit Hansen' war.

„Er ist auf den Kopf gefallen.", antwortete sie „Und es war meine Schuld.", wollte sie eigentlich noch hinzufügen, aber sie tat es nicht. Stattdessen biss sie sich nervös auf die Lippe und richtete ihren Blick starr an die Wand mit den vielen bunten Kinderzeichnungen.

„Setz dich ruhig hin, du schaust so aus, als ob du auch ganz schön viel durchgemacht hättest.", sagte die Krankenschwester namens Birgit lächelnd. „Ich nehme dir deinen Bruder mal ab, ja?" fragte sie und nahm ihr den kleinen Jungen vorsichtig aus den Händen, ohne auf eine Antwort zu warten. „Wir bringen euch beide lieber ganz schnell zu unserer Kinderärztin."

Erst als dir zweite Krankenschwester sie behutsam aber bestimmt in den Rollstuhl drückte, merkte Emilie, dass dieser für sie bestimmt war.

Schwester Birgit war mit Ben auf dem Arm in einem nahe liegenden Untersuchungszimmer verschwunden und Emilie atmete erleichtert auf, als auch sie in das Zimmer geschoben wurde.

My Brother's KeeperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt