Die Aufzugtüren schlossen sich und die Kinderstation verschwand vor ihren Augen.
„Wohin fahren wir?", wollte Emilie wissen.
„Auf die Innere Station,", erwiderte Schwester Birgit „du musst ja auch noch untersucht werden."
„Das will ich aber nicht!", sagte Emilie. Sie hatte versucht ihre Stimme stark und selbstbewusst klingen zu lassen, aber Schwester Birgit schien der angsterfüllte Unterton in ihrer Stimme nicht entgangen zu sein.
„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.", sagte sie und kniete sich hin, um auf Emilies Augenhöhe zu sein. „Frau Doktor Engel wird sich um dich kümmern. Sie ist eine ganz liebe Ärztin."
Bevor Emilie den Mund öffnen konnte, um ihr zu widersprechen, öffneten sich die Türen des Aufzugs erneut. Als Schwester Birgit Emilies Rollstuhl auf den Gang hinaus schob, wurden sie bereits erwartet.
Eine weitere Frau in weißem Arztkittel stand vor ihr. Die neue Ärztin wechselte hastig ein paar Worte mit Schwester Birgit und beugte sich dann zu Emilie hinunter, um sich vorzustellen.
„Wie heißt du denn?", fragte sie, nachdem sie Emilie ihren eigenen Namen genannt hatte.
„Das will sie nicht sagen.", sagte Schwester Birgit schließlich an Emilies statt, als diese es weiterhin vermied, auf die Frage zu antworten.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht wurde sie in ein Behandlungszimmer gebracht. Dieses Mal jedoch, schaute Emilie sich das Zimmer genauer an. Mitten im Raum war eine Untersuchungsliege, über die weißes Papier gespannt war und direkt daneben, stand ein kleiner Höcker mit Rädern, der für die Ärzte bestimmt war. Um die Liege verteilt konnte Emilie einige Geräte und Untersuchungsmaterialien erkennen, die sie schon ein paar Mal in Arztserien im Fernsehen gesehen hatte.
„Schaffst du es, aufzustehen?", fragte Dr. Engel „Du musst dich nämlich einmal hier auf diese Liege legen."
Emilie machte eine komische Bewegung- eine Mischung aus Kopf nicken und Schulter zucken. Sie konnte aufstehen- auch wenn sie inzwischen erschöpft war und das volle Ausmaß ihrer Verletzungen allmählich spüren konnte- aber sie wollte nicht.
Sie begann mit ein paar Strähnen ihrer hüftlangen, blonden Haare zu spielen und sie an den Spitzen abzureisen.
„Es passiert auch nichts Schlimmes.", sagte Schwester Birgit.
„Genau." stimmte Dr. Engel ihr zu „Und ich werde dir alles, was ich mache, erklären. Versprochen."
Die beiden Frauen sahen sie erwartungsvoll an und Emilie wurde klar, dass sie in dieser Situation keine echte Wahl hatte. Mit zittrigen Beinen stand sie auf setzte sich auf die Untersuchungsliege.
„Sehr gut!", sagte Dr. Engel und lächelte ihr aufmunternd zu „Ich werde dich jetzt erst einmal abhören. Das kennst du bestimmt schon vom Kinderarzt. Da waren deine Eltern sicher schon öfter mit dir."
Obwohl die Situation ernst war, musste Emilie sich beinahe ein Grinsen verkneifen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass ihre Mutter je mit ihr bei einem Kinderarzt gewesen war und auch seit sie in Pflegefamilien lebte, war sie nur selten beim Arzt gewesen.
„Holst du ihr bitte noch eine Decke, Birgit?", fragte die Ärztin, nachdem sie sich ihr Stethoskop wieder um den Hals gehängt hatte. „Sie war ja doch ganz schön lange in der Kälte draußen."
Die Krankenschwester verließ den Raum und Emilie stellte erschrocken fest, dass sie nun mit der Ärztin alleine war.
„Wieso warst du denn im Dezember mitten in der Nacht alleine unterwegs? Bist du vor jemandem weggelaufen?"
Emilie nickte zaghaft, sagte aber weiterhin kein Wort.
„Willst du mir vielleicht verraten, vor wem du solche Angst hast?", fragte Dr. Engel „Wenn Kinder, die solche Verletzungen haben, wie du und dein Bruder, ins Krankenhaus kommen, müssen wir nämlich die Polizei anrufen und-"
Emilie war aufgesprungen und stürzte sich auf die Tür, aber noch bevor sie ihre Hand auf die Türklinke legen konnte, ließ sie der plötzlich wieder aufkommende Schmerz an ihrer Seite zu Boden sinken. Als sie nach dem kleinen Sprung von der Untersuchungsliege auf dem Boden aufgekommen war, hatte sie erneut ein Stechen gespürt- nur, dass es jetzt noch schlimmer war, als zuvor.
Sie kauerte sich neben der Tür zusammen und hielt sich den Bauch. Sofort war Dr. Engel neben ihr auf dem Boden.
„Ganz ruhig.", flüsterte sie „Versuch, dich nicht zu viel zu bewegen."
Die Tür öffnete sich und Schwester Birgit, die eine zusammengefaltete Decke über dem Arm trug, trat wieder ein.
„Hilf mir schnell, sie auf die Liege zurück zu legen.", sagte Dr. Engel.
Keine der Beiden verlor ein Wort, während sie Emilie hochhoben und gemeinsam zurück auf die Liege trugen.
Emilies Gesicht war schmerzverzogen und Tränen kullerten ihre Wangen hinunter- trotzdem hielt sie mit einer Hand ihren Pullover fest und griff mit der anderen nach der Hand der Ärztin, als diese versuchte, ihren Bauch freizumachen.
„Alles gut.", sagte Dr. Engel und versuchte vergeblich, ihre Hand aus Emilies Griff zu befreien, ohne dem Mädchen dabei weh zu tun. „Ich muss mir das einmal anschauen."
Aber Emilie schüttelte nur weiter panisch den Kopf.
„Die Ärztin will dir nur helfen.", sagte Schwester Birgit, die sich auf die andere Seite der Liege gestellt hatte. „Am besten, du gibst mir mal deine Hand und lässt die von der Charlotte wieder los."
Es dauerte einige Minuten, aber nach gutem zu reden und viel geübter Hartnäckigkeit schaffte es Schwester Birgit schließlich, Emilies Hand von der, der Ärztin zu lösen und sie in ihre zu nehmen.
„Die andere Hand legst du am besten auf die Seite.", sagte Dr. Engel und deutete auf die Hand, die immer noch Emilies Pullover festhielt.
„Super.", lobte die Ärztin, als Emilie langsam ihre Hand wegnahm und sie neben ihrem Körper auf die Liege legte.
Dr. Engel zog den grauen Sweater des Mädchens nach oben, um ihren Bauch untersuchen zu können und hielt kurz inne. Über Emilies ganze rechte Seite, zog sich ein riesiger Bluterguss.
Author's note:
Danke, fürs lesen :)😋 Wenn euch das Kapitel gefallen hat, dann stimmt bitte ab, über Kommentare würde ich mich auch sehr freuen. 😊
Was glaubt ihr, was im nächsten Kapitel passieren wird? Was würdet ihr gerne lesen? ❓
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My Brother's Keeper
FanficIn einer eisigen Dezembernacht kämpft sich die 10-jährige Emilie durch Schnee und Sturm, um ihren kleinen Bruder zu retten, aber werden die Ärzte der Klinik am Südring den Geschwistern helfen können, bevor es zu spät ist? Die Ärzte, die hauptsächlic...