Der weitaus größte Teil meiner selbst will die Pistole auf sie richten. Von sich aus werden einem die wenigsten Menschen die Wahrheit erzählen, es bedarf entweder Manipulation oder eines Druckmittels – das habe ich schon vor einer halben Ewigkeit verinnerlicht. Und obwohl ich dieses Prinzip verdrängt geglaubt habe, hat mir meine bisherige Zeit in Nowosibirsk all diese Lektionen wieder schmerzlich ins Gedächtnis zurückgerufen.
Doch so lächerlich es auch klingen mag – ausgerechnet in diesem Augenblick gebe ich mich einer ganz anderen irrationalen Kraft hin; der Stimme eines kleinen Mädchens, das naiverweise an das Gute auf dieser Welt glauben will. Obwohl mein Verstand also nicht mehr als ein abfälliges Schnauben für diese armselige Gefühlsduselei übrighat, lege ich die Waffe auf dem Sofa ab. Im Zweifelsfall sollte ich in der Lage sein, sie mir wiederzuholen, bevor mir Aurora zuvorkommen kann. Voll Unmut muss ich allerdings feststellen, dass ich mich teilweise sogar gegen diesen Gedanken sträube. Na ja, falls es notwendig werden sollte, werde ich mich schon dazu überwinden das eigentlich Vernünftige in dieser Situation zu tun.
Ich richte mich auf, nehme die Schultern zurück und mustere sie einen Moment lang von oben herab, ehe ich entschlossenen Schrittes an sie herantrete. Gefährlich langsam beuge ich mich zu ihr hinunter, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander trennen. Zwar sind meine Augen fest auf ihre gerichtet, jedoch beobachte ich gleichzeitig jede ihrer Bewegungen wachsam. Noch immer hat sie den Rucksack bei sich – und ich bin mir sicher, dass sie auch das Aerosol noch immer bei sich trägt. Ich kann getrost darauf verzichten, ihr nächstes Opfer zu werden.
Derweil sinkt das Mädchen immer weiter in sich zusammen. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass sie mir bloß etwas vorspielt. Schließlich kann sie mir beim besten Willen nicht weismachen, sie hätte keine Angst vor zwei Riesen wie Pierre und Grégoire, aber dafür vor jemandem wie mir. Dementsprechend hält sich auch mein Mitleid in Grenzen.
„Gib mir die Sprühdose", befehle ich ihr kurzangebunden und strecke die Hand aus.
Falls das überhaupt möglich ist, weiten sich ihre Augen noch mehr. Ihre vollen Lippen öffnen sich ein wenig, in ihrem Gesicht vermischen sich Schmerz und Unglauben. „Du glaubst doch nicht, dass...?", beginnt sie. Jedoch reicht meine Geduld wirklich nicht mehr aus, um mir auch noch diese Plattitüden anzutun.
„Sofort!", herrsche ich sie unbarmherzig an. Meine Stimme klingt wie ein Peitschenhieb. Sogleich zuckt Aurora auch erschrocken zusammen, reflexartig hebt sie die Hände schützend vor das Gesicht, als würde sie jede Sekunde mit einem Schlag rechnen. Hastig fischt sie die Sprühdose mit dem Aerosol aus ihrer Manteltasche, um sie mir anschließend auszuhändigen. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, werfe ich sie wiederum zu der Pistole aufs Sofa.
Tausend Fragen schießen mir gleichzeitig durch den Kopf, sodass ich gar nicht weiß, wo ich überhaupt anfangen soll. Vermutlich wäre es nicht schlecht, als Erstes zu erfahren, wer da eigentlich vor mir steht. „Wie man hört, ist Aurora gar nicht dein richtiger Name?", eröffne ich das Verhör mit forderndem Tonfall.
Beschämt senkt sie den Blick zu Boden und schließt die Augen. „Jekaterina Ivanowna Wolkonskaja", wispert sie nach einigen Sekunden des Schweigens. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein sanftes Hauchen. Den Schmerz, als sie mir ihren echten Namen nennt, kann ich dennoch überdeutlich heraushören. „Das hat dir Antonín erzählt, oder?"
„Was tut das zur Sache?", schnauze ich barsch zurück und mustere sie abfällig. Eigentlich will ich das Gespräch bereits auf Nina und dieses ganze Schlamassel, in das sie mich mit hineingezogen hat, lenken, als das Mädchen mir zuvorkommt.
„Antonín weiß auch irgendwie alles", stellt sie trocken fest, ihre Lippen verziehen sich dabei zu einem abwesenden, schwachen Lächeln, in das sich alsbald eine bittere Note schleicht, als sie fortfährt. „Meine Eltern sind Royalisten. Sie leben noch immer in Wladiwostok. Als meine Schwester und ich von daheim weggelaufen sind, ist sie als Erstes zu Antonín gegangen. Sonst kannte sie niemanden in Nowosibirsk, der uns hätte helfen können. Alle anderen hätten uns wieder nach Wladiwostok geschickt."
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Strelok - Die Schützin
Исторические романыEine alternative Geschichtsschreibung: 1947 unterzeichnen das Dritte Reich und die Sowjetunion den Waffenstillstand von Moskau, womit der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende findet. Im Februar 1964 wird die 21-jährige Elisabeth in Sibirien als Agent...