Das Lied von Myriam und Cindaril

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Dies ist die Geschichte von Myriam und Cindaril, wie sie seit Jahrhunderten erzählt wird. Ob sie sich je so zugetragen hat, kann niemand sagen. Wenn, dann in einem anderen Zeitalter, lange vor der Vertreibung der Chimera, als die Menschen noch jung waren. Sie erzählt vom Königreich Agaram, das unterging, lange vor die Chimera die Pforte von Jal-Echnatôl versiegelten, als die großen Meerechsen noch zahlreich waren.

In jenem Königreich, so heißt es, lebte das Volk noch in Wohlstand, denn es war noch nicht zahlreich und die Felder brachten reiche Ernten und das Vieh gedieh. Die Menschen jener Tage lebten für die Kunst und ihr Ehrgeiz war groß. So kam es, dass zwei Familien sich besonders hervor taten, die Sippe der Iam, die Schnitzer und die Sippe der Aril, die Schmiede. Ihre jüngsten Söhne, Doriam und Kendaril wurden im selben Sommer geboren, nur durch wenige Tage getrennt. Sie wuchsen in denselben Gärten auf, jagten dieselben Springvögel auf den Feldern und waren eng wie Brüder. So kam es, dass sie zum Mannesalter heranreiften und sie wurden wohlerzogen. Vor allem aber wussten sie wohl, ihren Besitz zu wahren und zu mehren und den nötigen Stolz darauf an den Tag zu legen. Sie beide erwählten bildschöne Frauen, Andra, aus dem Hause Dra, den Schiffsbauern, hernach Myriam geheißen und Teneria, aus dem Haus Ria, den Sängern, hernach Cindaril genannt. Sie wurden verheiratet auf ihrer Väter Geheiß, um das Ansehen und die Beziehungen zu mehren, doch zu Anfang rangen sie ihrem Fatum nicht wenig Freude ab, denn das Los hätte sie wahrlich schlimmer treffen können als mit Doriam und Kendaril, die stattlich und schön waren. Doriam und Myriam bezogen eine Residenz ganz aus Holz am Meer, denn nur ungern wollte sie sich vom Wasser lösen und Doriam erfüllte ihr diesen Wunsch. Kendaril hingegen erbaute für sich und seine Angetraute ein prachtvolles Haus in der Hauptstadt, mit Metall, wo sich Metall verarbeiten ließ, in Verzierungen, Fenstern und Leuchten, so wie es in seiner Sippe seit jeher Brauch war. Und Cindaril zuliebe hatte das Haus einen gar herrlichen Klang, eine gar herrliche Akustik. So kam es, dass die Männer einander lange Zeit verabschieden mussten, obwohl sie doch wie Brüder waren, denn die Küste war fern und der Weg war gefährlich, auch in jenen Tagen schon.

Beinahe acht Sommer sollte es dauern, bis sie einander wiedersahen und die Geschichte ihren verheerenden Lauf nahm. Dann nämlich gab der König ein Fest und auch Doriam, der auf Bitten seiner Frau all die Zeit nie die lange Reise unternommen hatte, konnte nicht umhin, ebenfalls der Einladung seines Königs Folge zu leisten. Myriam  indes war ihrer Heimat ohnehin müde und wollte nun endlich mit eigenen Augen erblicken, wovon er ihr schon so oft erzählt: die glänzende Stadt Algra, von der heute nur noch Ruinen Zeugen sind. Sie ritten viele Tage lang, begleitet von Familie, Freund und Eskorte, ja mehrere hundert Mann stark war das Gefolge, denn es vereinte die Delegation Doriams, sowie die der Dra, denn die Schiffbauer waren von ebenso hohem Rang.

Sie erreichten die Stadt am ersten Tag des Festes, und an diesem Abend geschah, was geschehen musste. Groß war ihre Freude, einander wiederzusehen. Es wurde getrunken, gesungen, gelacht, von allem reichlich in jener Nacht. Und sie erblickten des jeweils Anderen Frau, staunend über deren Schönheit, neben der die der eigenen Angetrauten zu verblassen schien. Den Abend feierten sie ausgelassen, doch der Keim des Unheils war gesät. Und in den folgenden Tagen erhärtete sich, was wie eine bösartig eingefädelte Intrige erscheint: Doriam begehrte Cindaril und Kendaril wiederum begehrte Myriam. Der genaue Hergang ging in der Überlieferung verloren, wichtig ist nur dies: In den Folgejahren kam Doriam oft nach Algra und noch öfter reiste Kendaril an die Küste, denn es war ihnen jeder Vorwand recht, um des anderen Frau zu sehen. Darüber wurden sie einander fremder, als sie es je waren, obwohl sie sich weit öfter sahen. Fremd wurden sie auch ihren eigenen Frauen, denn sie verzehrten sich lieber nach dem, was in der Ferne lag, als sich zu erfreuen an der Liebe, die sie im eigenen Haus erwartete. Oft waren sie wochenlang von Zuhause fort. Myriam gab ihrem Mann schließlich einen Brief für Cindaril mit und so entstand ein Briefwechsel, der alsbald erblühte, denn die Frauen fanden ineinander eine Leidensgenossin und auch Trost, denn ihre Männer waren in der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren kalt und fremd geworden. Sie ahnten, dass dergleichen geschehen war, obwohl sie niemals daran dachten, einander zu beschuldigen.

Das Lied von Myriam und CindarilWhere stories live. Discover now