Gegenteiltag

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Lyra saß auf einer Lichtung mitten im Wald, die von undurchdringlichem Nebel umhüllt war.
Raureif hatte sich auf dem kurzen Gras gebildet, doch ihr war nicht kalt-
Es war, als würde die Dunkelheit, die sie umgab, ihr Kraft spenden.
Ihr Blick hob sich zum Himmel, den Mond suchend, doch sie wurde nicht fündig. Da waren weder die Sterne, die Nachts als Lichtquelle dienten, noch der Mond, der den Himmel etwas erhellte- es war einfach völlig dunkel.
Doch sie fühlte sich wohl, sie war voll und ganz erfüllt von der Dunkelheit, so erfüllt, wie sie am Tag nie sein konnte.
Ein schrecklich lautes Klingeln riss sie aus ihrem Traum.
Beleidigt öffnete Lyra blinzelnd die Augen und starrte auf den hellblauen Wecker ihrer Schwester Cleo, den diese gerade abschaltete.
"Es ist Samstag...", krächzte sie verschlafen und zog die Decke vor ihre Augen, als Cleo die Vorhänge aufzog.
"Na und?", kam die Antwort, und sofort fiel es Lyra wieder ein- ihre Schwester arbeitete in einem Café. Und das war es wohl wert, alle im Haus auch am Samstag um 6 Uhr morgens mit ihrem Getöse zu wecken.
"Warum teilen wir uns nochmal ein Zimmer?", fragte Lyra genervt, während Cleo sich anzog.
"Wow, du hast ja mal wieder richtig gute Laune. Wiedersehen, Schwester. Im Gegensatz zu dir treffe ich gerne andere Menschen."

Als die hölzerne Tür sich hinter ihrer Schwester schloss, drehte Lyra sich auf den Rücken.
Was war bloß so toll daran, tagtäglich mit Hunderten von Leuten zu reden?
Doch ihre Schwester schien ein ganz anderer Mensch zu sein als sie selbst. Irgendwie waren sie noch nie auf einen gemeinsamen Nenner gekommen, ja, sie kamen klar, aber Lyra verstand einfach nichts an Cleo.
Andererseits verstand in dieser Stadt eigentlich niemand etwas an Lyra, also war wohl eher sie selbst die Ausnahme.
Der Unterschied zu ihren Mitmenschen konnte außergewöhnlicher nicht sein- Sie hob sich nicht ab von den anderen- zumindest nicht in der Art, in der es Punks taten- und weder war sie ein Rebell, noch besonders verschlossen. Eigentlich könnte sie ein ganz normales Mädchen sein, doch irgendwie war da dieses ständige Gefühl, anders zu sein, nicht zum Rest zu passen.

Als sie runter in die Küche schlurfte war ihre Mutter selbstverständlich auch schon wach.
"Guten Morgen, Schlafmütze!", rief sie über den Lärm ihres Smoothie Mixers hinweg.
Lyra hatte keine Lust zu schreien, sie hob nur kurz die Hand zur Begrüßung.
"Willst du auch einen?", fragte ihre Mutter, nachdem sie das Gerät abgestellt hatte, und setzte sich dann zu ihr an den gedeckten Frühstückstisch.
Woher nahm diese Familie nur die Motivation, so früh am Morgen schon so aktiv zu sein?
"Wie kommt es, dass du wach bist?", fragte sie jetzt, Lyra zuckte nur mit den Schultern.
"Frag doch Cleos Wecker."
"Ach ich bitte dich.", kam die schnelle Antwort, "Sie tut nur ihre Pflicht als verantwortungsvolle Arbeiterin. Und sie tut es gerne. Du wirst schon nicht daran sterben, einmal morgens früh aufgeweckt zu werden. Außerdem kriegst du so mit, dass unser neuer Nachbar heute einzieht."
Überrascht sah Lyra aus dem Fenster.
Und tatsächlich- dort stand ein Umzugswagen, von dem aus drei Männer Möbel ins Haus trugen.

Zwei von ihnen trugen das Logo, das auch auf dem Wagen stand, auf ihren T-shirts, während der dritte offenbar der neue Bewohner des Hauses war. Er trug eine schwarze Lederjacke und einige lederne Armbänder am Handgelenk, sowie mehrere Ringe an beiden Händen.
So zog sich in dieser Stadt niemand an, doch irgendwie fiel Lyra plötzlich auf, dass ihr der Geschmack des jungen Mannes, der jetzt aus dem Wagen sprang, sehr gut gefiel.

"Ich weiß nicht, irgendwie wirkt er unsympathisch."
Lyra schreckte auf, als plötzlich die Stimme ihrer Mutter neben ihr erklang.
Unsympathisch? Sie hat das noch nie über irgendwen gesagt...
Wie konnte es sein, dass die erste Person, die auf Lyra nicht wirkte wie ein spießiges Arschloch, offenbar genau diesen Effekt auf ihre Mutter hatte?

Wow. Ich bin echt das absolute Gegenteil der Leute hier.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 26, 2020 ⏰

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