4. Kapitel Die Nixe

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„Ich kann keine Kokosnüsse mehr sehen!", klagte Jolly. Sie und ihr Bruder waren nun schon drei Tage auf der Insel und hatten bislang nur das weiße Kokosfleisch gegessen und die süße Flüssigkeit aus dem Inneren der Nuss getrunken, da sie sich nicht getraut hatten, die Früchte aus dem Urwald zu kosten. Sie wussten schließlich beide nicht, was durch eine einzelne kleine unscheinbare Beere bewirkt werden konnte. Es könnte sein, dass sie krank werden oder gar sterben würden. Vielleicht verwandelte man sich aber auch in einen großen, lilanen, flugunfähigen Vogel und wurde schon nach zwei Tagen von der Bestie gefressen. Man konnte ja nie wissen und so beließen es die beiden doch bei den ihnen bekannten Kokosnüssen.

Einmal allerdings, als die beiden noch keine gute Methode gefunden hatten, die Kokosnüsse von den hohen Palmen zu holen, - Al hatte es beim ersten Mal mit dem Schütteln der Pflanze probiert, aber dabei war eine der herab fallenden Früchte so nah an seinem Kopf vorbei gerauscht, dass er es dann doch bleiben ließ - hatte sie der Hunger dann jedoch so gequält, das sie dennoch zum Wald gelaufen waren und nach essbar aussehenden Früchten suchten. Tatsächlich entdeckten sie eine Beere, die einer Blaubeere zum Verwechseln ähnlich war. Sie überlegten lange hin und her und wurden und wurden sich nicht einig, wer von ihnen jetzt von der Beere kosten sollte. Jolly begann die Debatte so: „Ach Al, jetzt sei doch nicht so! Zu Hause kannst du nie davon genug kriegen, zu beweisen wie unglaublich mutig du bist!", und sie wedelte theatralisch mit den Händen. „Und nun traust du dich nicht einmal, eine winzig kleine Beere zu essen! Was würden bloß deine ganzen Freunde sagen wenn sie dich so sähen...!" Jolly redete und redete und holte während des ganzen Vortrags, wie es Al schien, kein einziges Mal Luft, außer nach einem Satz, den sie mit einem tiefen, empört klingendem Atemzug unterstreichen wollte. Sie gestikulierte die ganze Zeit übertrieben vor dem Gesicht ihres Bruders herum bis dieser sie so laut unterbrach, das ein kleines Papageien ähnliches Vögelchen mit pelzigen Katzenohren, das die beiden Geschwister interessiert beobachtet hatte, unter entrüstetem Gezeter davon flog. „Genug!", brüllte Al. „Wenn es ja sooooo ungefährlich ist diese kleine blaue Beere zu essen, dann, zum Teufel noch mal, mach's doch selbst!" Jolly starrte ihren Bruder verdattert und ungläubig an, fing sich aber schnell wieder und begann erneut zu schnattern. Sie erklärte ihrem Bruder, dass sie doch viel jünger sei als er und dass man ja nie wissen konnte ... und so weiter und sofort. Als Allan sich nach geschlagenen zehn Minuten und einer endlos scheinenden Diskussion, endlich dazu durchrang eine der Früchte zu kosten, spukte er diese sofort wieder aus murmelte nur verdrießlich: „Schmeckt nicht", und begann in einer wirren Melodie zu brummen und zu summen. Dann war er losgegangen, mitten in den Urwald hinein und Jolly musste ihren Bruder regelrecht zum Strand schleppen, wo er sich sofort in den Sand fallen ließ und weiter summte. Dieses Verhalten endete erst am nächsten Tag und Jolly, die die ganze Nacht vor Sorge, dass Al abhauen könnte und, wie sie sich selber kaum eingestehen mochte, Belustigung kein Auge zugemacht hatte, erklärte ihrem Bruder was vorgefallen war, da der sich an nichts von alldem erinnern konnte.

Nach dieser Angelegenheit machte sich Jolly auch einmal auf die Suche nach essbaren Muscheln oder Krebsen. Mutter und Vater hatten sich die nur selten leisten können. Meeresfrüchte waren schließlich eine echte Delikatesse, worüber sich Jolanda nun nur umso mehr wunderte, denn man konnte sie doch einfach auflesen! Mutter und Vater...
Jolly hatte gleich am ersten Tag, von Schuldgefühlen gequält, zu Al gesagt: „Es ist alles meine Schuld. Wenn wir hier von der Bestie gefressen werden" und sie schluchzte steinerweichend. Allan und sie hatten beschlossen, dieses Tier das im Wald lebte von nun an nur noch „die Bestie" zu nennen. Sie fuhr den Tränen nahe fort: „oder wenn wir vor Hunger und Mum und Dad vor Sorge sterben, dann ist das allein meine Schuld! - Nein Al da brauchst du gar nichts zu sagen - Schließlich war ich es, die so unbedingt den Brief öffnen wollte. Aber ich wollte, und will auch immer noch, UN-BE-DINGT rausfinden woher, verdammt noch mal, diese Stimmen kommen..." So etwa ging das mindestens zweimal am Tag und Al hatte die Angewohnheit entwickelt immer dann, wenn Jolly auf ihn zukam und anfing zu klagen, möglichst nah ans Wasser zu gehen, wo die Wellen besonders laut und kräftig waren.
So war es nun auch wieder am fünften Tag und als Jolly sich schon eine Weile wieder selbst für alles, was ihnen wiederfahren war beschuldigte, hielt sie plötzlich inne. Die beiden hatten sich nun weiter als je zuvor von ihrer Lagerstätte entfernt, als Jolly etwas Seltsames entdeckte. Etwas lag am Strand. Etwas Größeres als sonst. Bisher war immer nur ein wenig Treibholz angespült worden und eines Tages sogar eine Flasche, welche Jollys Verdacht, in einem anderen Universum gelandet zu sein, zunichte und das Mädchen sehr erleichtert gemacht hatte. Doch dieses Mal war es ganz anders: Es war groß und grünlich, nass und in sich zusammen gekrümmt. Und Jolly spürte mit großem Unbehagen, dass irgendwas von diesem Ding ausging. Sie hätte nicht sagen können, ob es ein Knistern war, das sie hörte, oder einfach nur ein Gefühl, welches sie nicht deuten konnte. Und doch meinte sie, dieses Rascheln schon einmal gehört zu haben. „Vielleicht ein Fisch", dachte Jolly laut. Sie versuchte zuversichtlich und ruhig zu klingen, aber sie war sich sicher, dass Al genau das Gegenteil aus ihrer Stimme heraushörte. „Das ist ganz bestimmt kein Fisch", sagte er unsicher „Was denn dann?", frage Jolly. „Ich weiß es nicht", sagte Allan nachdenklich. „Lass uns mal hingehen, es sieht tot aus.", verkündete er beinahe gleichgültig und schon marschierte Al auf dieses Wesen zu, von dem sie beide keine Ahnung hatten, um was es sich handelte.

Bermuda  *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt