Sie wachte auf und blickte ins Dunkel. Im Endeffekt wusste Stella nicht, was sie geweckt hatte, war aber froh darüber, denn so musste sie nicht länger in dem Albtraum verweilen, den sie eben noch gehabt hatte.
Ihre roten Haare, die wie bei vielen achtjährigen Mädchen lang waren, hatte sie für die Nacht zu einem Zopf zusammengebunden. Jetzt, da der Schrecken des Albtraums von Stella abgefallen war, befiel sie wieder diese Freude, die sie meist nur an ihrem Geburtstag und Weihnachten verspürte. Letzteres traf zu, denn es war die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember.Leise stand sie auf und ihre helle Haut zeichnete sich zusammen mit ihrem weißen Schlafanzug ein wenig von der sie umgebenden Dunkelheit ab. Mit einer kleinen, sanftes Licht verströmenden Taschenlampe bewaffnet tapste sie so leise wie nur irgend möglich in den Wohnungsflur hinaus, um dann das Wohnzimmer zu betreten, in dem der Weihnachtsbaum stand. Selbst in der Nacht war die Beleuchtung des Baumes an, sodass Stellas Augen ob des Lichtes vor noch mehr Freude glänzten.
Stella kniete sich hin und inspizierte den Teppich unter der Tanne. Und tatsächlich! Die Geschenke lagen schon da, bereit, ausgepackt zu werden. Eilig, aber noch immer auf Ruhe bedacht, ging sie in das Zimmer ihrer Schwester Pandora, um dieser ihre Entdeckung mitzuteilen. Doch als Stella sie wecken wollte, stieß sie nur auf ein leeres Bett und nicht auf eine schlafende Pandora, was Stella verwirrte, denn Pandora war älter als sie und schlief deswegen immer in ihrem eigenen Bett. Ob sie wohl diesmal eine Ausnahme gemacht hatte?Stella glaubte es zwar nicht, ging aber dennoch ins Schlafzimmer ihrer Eltern, wo sie auf ein leeres, ja völlig unberührtes, Bett stieß. Langsam, wie ein kleines Tier, kroch die Angst in ihr hinauf, trat aber noch nicht an die Oberfläche.
Systematisch suchte Stella die gesamte Wohnung ab, musste aber feststellen, dass außer ihr niemand da war, weshalb sie in ihr Zimmer ging, dort ihren Lieblingsstoffhasen nahm und sich danach im Flur ihre Winterstiefel anzog. Dann ging sie hinaus auf den kühlen Hausflur und zog die Wohnungstür zu. Das sollte sich, auch wenn Stella dies noch nicht wusste, später als Fehler herausweisen.
Ihr war bewusst, dass es tiefste Nacht war und sie womöglich den Zorn der Nachbarn auf sich ziehen würde, wenn sie sie weckte. Doch das war ihr egal. Stella wollte einfach nur wissen, wo sich ihre Familie aufhielt. Also klopfte sie so laut sie konnte an der gegenüberliegenden Tür der lieben, schon etwas älteren, Frau Mertens.
< Bestimmt weiß sie etwas >, hoffte sie, aber auch nach mehrmaligem Klopfen und Klingeln tat sich einfach nichts. Langsam, darauf bedacht nicht zu stolpern, ging sie hinunter in den zweiten Stock des Hauses und wiederholte dieselbe Prozedur an den beiden Türen dieses Stockwerkes wie an der vorigen Tür.Keine Reaktion.
Nun war der erste Stock dran, danach das Erdgeschoss.
Nichts.
Es konnte doch nicht sein, dass im ganzen Haus niemand anderes zugegen war außer Stella!
Mittlerweile war die Angst auch kein kleines Tier mehr, sondern ein großes Monster, das in ihrem Kopf wütete, alles rationale Denken zerstörte und sofort beseitigte. Stella hatte nur noch wenige Kerngedanken, die sich auf einzelne Wörter beschränkten: < Warum ... ich allein ... Papa ... Pandora ... Mama ...! ... finden ...! >
Ihr Atem ging schwerer und stoßweise, sie hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper, ihre Herzfrequenz war erhöht, ihre Pupillen geweitet.
Die Dunkelheit war nicht länger ihr weihnachtlicher Freund, sondern einer ihrer Feinde. Stella öffnete die Haustür und ging hinaus in die verschneite, aber eiskalte Nacht. Die Haustür ließ sie, mit Hilfe des Türstoppers, offen. Das leichte Glitzern des Schnees, sowie die Schneeflocken, die sich in ihrem Haar verfingen, nahm sie nicht wahr. Die Kälte betäubte sie ein wenig, nahm ihr aber nicht die Angst.
Durch den knöchelhohen Schnee lief Stella zum Nebenhaus, wo sie bei allen Bewohnern gleichzeitig die Klingel betätigte. Doch auch dort empfing sie keine Reaktion, weshalb sie zum nächsten Haus weiterging.
Insgesamt klingelte Stella eine halbe Stunde lang an vielen Häusern der Straße, ehe sie sich zu ihrem Haus zurückbegab.
Mittlerweile weinte sie und klammerte sich an ihren Stoffhasen. Sie ging nach oben zu ihrer Wohnung, wo ihr aber schmerzlich bewusst wurde, dass sie nicht dort hinein konnte um sich aufzuwärmen, da sie die Tür vorhin geschlossen hatte.
Klar denken vor Angst konnte Stella schon lange nicht mehr, doch nun überrollte sie auch noch eine Welle der Panik. Sie hämmerte gegen die Tür, in der irrationalen Hoffnung, dass sie sich dadurch öffnete. Was sie natürlich nicht tat.
Nach einer Weile, jetzt all ihrer Hoffnung beraubt, sank sie, mit ihrem Stoffhssen im Arm, an der Tür hinab und blieb dort schluchzend und wie paralysiert sitzen. Stella schloss ihre Augen und kam zur Ruhe.
Sie sollte nie wieder aufwachen.Am nächsten Morgen fand Stellas Mutter sie, als sie die Zeitung aus dem Briefkasten holen wollte und dazu die Wohnungstür aufmachte. Sie kam nicht weit, da sie auf ihre, vor der Tür zusammengesunkene, Tochter stieß und sofort in Tränen ausbrach.
<< Kai! >>, rief sie, unter heftigen Schluchzern, ihren Mann herbei.
<< Kai ... sie hat wohl ... wieder geschlafwandelt >>, versuchte sie zu erklären.
Er nahm sie bei den Schultern, führte sie in die Wohnung zurück und versorgte sie kurz, bevor er behutsam die kleine Stella hochnahm, um diese in ihr schon lange erkaltetes Bett zu bringen, damit sie nicht länger wie ein grausiges Weihnachtsgeschenk vor der Tür lag.Der Kinderarzt hatte sie immer wieder ermahnt, des Nachts immer die Wohnungstür abzuschließen, denn Stella war eine akute Schlafwandlerin. Während des Schlafwandelns war für Stella alles wie in der Realität, bloß, dass sie keine Personen wahrnahm und manchmal nur dachte, dass sie gerade handelte, es aber eigentlich nicht tat. So hatte sie zum Beispiel nicht an ihre Wohnungstür gehämmert und auch nicht bei den ganzen Leuten geklingelt. Wie fast jeder Schlafwandelnde konnte sie sich beim Aufwachen an nichts erinnern.
Diese Nacht hatten ihre Eltern vergessen, die Tür abzuschließen, was besonders bei diesen Temperaturen in der Nacht gefährlich war. Dies war Stellas Verhängnis gewesen. Da sie, durch die von ihr zugezogene Tür, nicht mehr in die warme Wohnung hatte gelangen können, war sie im doch recht kalten und etwas zugigen Treppenhaus an Unterkühlung gestorben.Einsam.
In der Stille der Nacht.
______________Ich hoffe, dass euch diese Kurzgeschichte gefallen hat. Verbesserungsvorschläge, Anregungen oder ähnliches sind in den Kommis gern gesehene Gäste ;)
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Stille der Nacht
Short StoryEine Kurzgeschichte, die eventuell ein wenig Gänsehaut bereitet...