Seifenblasen

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Seifenblasen. Mein Leben ist wie eine Seifenblase. Eine ironischerweise schreckliche Seifenblase. Es war alles so gut. Naja, nicht immer. An meine Kindheit kann ich mich nicht erinnern. Die Therapeuten sagen, ich muss sie verdrängt haben, angeblich eine normale Reaktion des Hirns auf traumatische Erlebnisse. Meine frühste Erinnerung ist, als ich acht war. Mein erster Tag in meiner Familie. Natürlich nicht meine echte Familie. Aber schon lange betrachte ich diese als meine echte, die mich aufnahm als ich es brauchte, für mich da war und mich mit Liebe umgab. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Trotz dass ich sie fortstieß. Ich tat das nicht absichtlich. Also nicht um sie zu verletzen. Sondern weil ich endlich akzeptiert wurde trotz meiner Herkunft. Etwas, wofür ich mein ganzes Leben kämpfen musste. Keiner will mit einem Adoptivkind befreundet sein. Jedenfalls keiner, der eine Wahl hatte. Und so war ich bis Laurien eine Außenseiterin. Sie nahm mich auf, wurde meine beste Freundin, allerdings machte sie mir klar, dass ich für einen sozialen Aufstieg meine Eltern aufgeben müsse.

Eine Seifenblase. Erst musste man sie machen, dann wurde sie wunderschön und bedeutend und anschließend platzt sie. Ein schrecklich passender Vergleich für meine jetzige Situation.

Jeden Tag schicken sie Therapeuten zu mir, mit denen ich nicht sprechen will. Inzwischen hasse ich sie regelrecht. Sie nahmen mir alles. Mein Leben. Meine Freunde, meinen Freund. Ich weiß, dass sie daran nicht schuld sind. Das erklären mir alle, aber trotzdem mache ich sie schuldig. Das ist einfacher, als zuzugeben, dass ich Schuld bin. Denn das bin ich. Ich hätte nicht so aufsticken dürfen, hätte nicht körperlich werden dürfen, hätte aufpassen müssen. Schon immer. Aber als in dem Moment durch die gleiche Situation die ganzen Erinnerungen kamen, konnte ich nicht anders. Mein Hirn hatte sie mit einem guten Grund verdrängt.

Ich kann nicht mehr. Meine Schuld erdrückt mich. Mein einziges Ziel ist es, meinem Leben ein Ende zu setzen. Nur das kann ich nicht, denn ich werde überwacht und kontrolliert. Ich verstehe nicht, wie mich je jemand lieben konnte. Aber vielleicht tat das nie jemand. Vielleicht erkannte jeder meine Schuld bevor ich es tat und deshalb wichen sie vor mir zurück. Die Erinnerungen sollen weg! Alle! Ich will platzen wie eine Seifenblase.

Aber ich kann nicht. Immer wieder denke ich an den Moment im Wald. Die Party; Alkohol; Laurien, die nur kurz was trinken holen will; die Musik, die aus dem Lautsprecher dröhnt; Damien, der mit mir flirtet; der Baum; meine plötzliche Angst; Damiens Lachen; seine Hände überall; Panik. Aber vor allem meine Schuld. Wie konnte ich ihm nur jemals Hoffnungen machen, mit ihm lachen, flirten? Nur so kam er auf den Gedanken, es sei ein Spiel. Ich dachte ja auch, es sei ein Spiel. Bis das Gesicht meines Vaters in mein Bewusstsein drang. Meines leiblichen Vaters. Und ich erlebte die Erinnerung wieder, erlebte sie so lebhaft wie alles andere. Im Vordergrund: meine Schuld. Ich hatte die Vase kaputt gemacht. Damit fing alles an. Er meinte, er müsse mich bestrafen und ab da fand er immer neue Gründe, Dinge, die ich falsch machte und die eine Strafe brauchten. Meine Schuld. Das sagte er mir damals immer wider und ich glaubte ihm. Natürlich glaubte ich ihm, ich war jung und naiv, aber vor allem war es die Wahrheit.

Ich drehte komplett durch. Kein Unterschied war erkennbar zwischen der Erinnerung und der Gegenwart. Ich machte etwas, jemand nutzte das. Damien, mein Vater, ihre Gesichter verschwammen vor meinen Augen. Ich bin schuld.

Die Therapeuten sagen, das stimme nicht. Sie sagen, ich kann nichts dafür, dass mein Vater und später Damien die Schuldigen waren. Dass meine Situation ein typischer Prozess sei und dass ich neu anfangen soll indem ich mit ihnen spreche. Aber ich kann nicht. In meinem Kopf sind keine Worte, die gesagt werden wollen, keine Worte, die meine innere Leere ausdrücken können. Auch das sei normal, sagen sie. Aber sie verstehen mich nicht. Denn ich weiß, dass es meine Schuld war und noch immer ist.

Das alles geht mir jetzt durch den Kopf. Die Gedanken sind grau wie eine Wolke und genau wie eine Wolke gehen sie nicht einfach. Sie sind dazu bestimmt, hier zu bleiben, in meinem Kopf, bis zum Ende. Ein Ende, das hoffentlich bald kommt.

Ein Windstoß kommt auf und ich zittere. Mein Leben als eine Seifenblase hat in meinem Kopf Gestalt angenommen und möchte genau so enden. Die eiserne Brüstung unter meinen Füßen erinnert mich an meine Leere, an meine Schuld. Glaubst du an Gott fragten mich viele. Ich lachte über sie, lachte über die Vorstellung einer Macht, die mein Leben lenkt, an dich ich mich wenden kann. Jetzt würde ich gern dran glauben können, aber wer kann schon an eine helfende Hand glauben bei der Kindheit. Ich bin schuld. Wie eine Playlist laufen diese Worte in meinem Kopf. Immer etwas anders, wie Musik. Jedes mal mit einem anderen Grund, einem anderen Beigeschmack.

Ich musste das hier beenden. Jetzt. Ein letztes mal drehte ich mich um, zu meiner kaputten Welt, meiner Seifenblase, sah gerade noch die erschrocken Gesichter meiner Eltern und Laurien, dann spürte ich nichts mehr. Ich fiel. Und die Last wich von meinen Schultern, denn für meine Schuld werde ich mich opfern und hoffen, dass Mom mich im Himmel empfangen würde trotz dass sie durch mich starb. Wie kleine Schmetterling flogen sie in die Nacht. Der Mord an meiner Mutter. Das zerschlagen der Gegenstände, das Wegwerfen der Liebe meiner Eltern, Damien. Alles ergab plötzlich einen Sinn. Und kurz bevor ich aufschlug, mit dem glücklichen Gedanken an eine Seifenblase, sah ich mein Leben vor meinem innern Auge vorbeiziehen. Mein Vater über mir, seine Hände überall, sein Zorn über meine Schuld am Tod meiner Mutter durch meine Geburt, sein Hass, der Streit mit meinen Eltern, der alles veränderte, der Alkohol, Damiens heißer Atem auf meiner Haut. Doch dann kamen die schönen Momente, meine beste Freundin in der Grundschule, die mich damals auf ihre kindliche und unbeholfene Art liebte, meine Eltern, die mich bedingungslos liebten für das, was ich war, die langen Gespräche mit Laurien, mal ernst, mal lustig, mein erster Kuss. Die unterschiedlichen Arten von Liebe, alle für mich empfunden. Meine Leben als Seifenblase, der wunderschöne Teil vorm Zerplatzen. Ich hoffe, dieser Teil wird von mir in Erinnerung behalten. Er war für mich der schönste, verdrängt vom Rest, aber jetzt weiß ich etwas, was jedem zustehen sollte zu wissen. Liebe der verschiedensten Arten machen das Leben lebenswert.

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