«Wie bitte? Wie bitte. Wie bitte!» So geht das nun schon seit einer Ewigkeit. Immer die gleichen Worte. Immer dasselbe und doch irgendwie nicht gleich. Vielleicht hätte es mir langsam peinlich sein sollen, die anderen Leute starren ja schon, aber irgendwie will ich nicht, dass du aufhörst. Ich hätte dich ganz abgesehen davon wahrscheinlich auch nicht dazu bringen können, selbst wenn ich es noch so sehr gewollt hätte. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich. «WIE bitte. Wie BITTE? WIe BItte!» Das Tischnümmerchen scheint dich zu faszinieren. Ein verspiegeltes kleines Plättchen, auf welches in dicken, schwarzen Lettern die Zahl 11 eingraviert ist. Du drehst und wendest es in jede erdenkliche Richtung und bist jedes Mal wieder aufs Neue von dem Bild fasziniert, das sich dir darin offenbart. Eine alte Dame, die sich Bratkartoffeln schmecken lässt, ein junges Paar, das sich über den Tisch hinweg an den Händen hält, du selbst, wie du mit der Nasenspitze fast die Tischnummer berührst. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich.
«WiE BiTtE?! wiE bittE!? wIe bItTe.» Die Leute scheinen sich wohl langsam damit abgefunden zu haben, dass du wahrscheinlich nicht allzu bald zum Schweigen gebracht werden wirst. Soll mir recht sein. Es wäre mir fast unmenschlich vorgekommen, dich in deinem Spiel zu unterbrechen, erscheinst du mir doch so unglaublich zufrieden. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich. «W iebitte? Wiebi tte! W iebit te.» Ich wünschte, es könnte immer so sein. Ich wünschte, es wäre immer so gewesen, aber wir beide wissen, dass das nicht möglich ist. Menschen finden dich komisch, das haben sie schon immer getan. Du habest keine Manieren, sagen sie. Ob dir denn keiner beigebracht habe, dass man eine Person anschaut, wenn man mit ihr spricht. Ungehobelt nennen sie dich, frech und respektlos. Immer wieder zerreisst es mir das Herz, wenn ich bemerke, wie sich all deine Klassenkameraden auf Abstand zu dir halten. «Komm ihm nicht zu nah, mit dem stimmt was nicht.» Kleine Rotzgören! Sie müssten dir nur eine Chance geben. Eine richtige Chance. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich.
«wie bitte. WIE BITTE? wIe bITTe!» Die alte Dame mit den Kartoffeln scheint wohl langsam die Nase voll zu haben von deinem Geplapper. Ob dieses Kind nicht endlich den Mund halten könne, es sei ja kaum auszuhalten. Aber du scheinst sie gar nicht wahrzunehmen. Selig lächelnd hast du es dir zur Mission gemacht, alle Tischnummern einzusammeln und im Gang aufzureihen. Eine hinter der anderen, alle in Richtung Tür blickend. Jedes Mal, wenn du deine Zahlenschlange um ein weiteres Plättchen verlängern kannst, streckst du dich ganz lang und scheinst mit deinen kleinen Patschhändchen die Luft zu kneten. Ein Bild des puren Glücks. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich. «Wie Bitte. Wiebitte! wi EBITT e?» Und immer wieder diese beiden Worte. Wie ein Lied singst du sie ununterbrochen vor dich hin. Ein Lied, das nur du kennst und dessen Sinn nur du verstehst. Nicht, als wenn das etwas Neues wäre. Schon immer hast du Lieder gesungen, die keiner versteht und schon immer hast du Spiele gespielt, die keinem anderen Kind Spass machen. Vielleicht haben sie dich deshalb immer ausgegrenzt. «Er will lieber die Münzen sortieren, als Entdecker zu spielen ... Der spinnt doch.» Als wenn das das Einzige wäre, was einen Menschen ausmacht. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich.
«Wie bitte? Wie bitte. Wie bitte!» Du hast mittlerweile alle Nummern eingesammelt. Sogar die Kartoffeldame hat dir ihre abgetreten. Wie grosszügig. Überglücklich watschelst du auf mich zu und ergreifst meine Hand, um mir dein Werk zu zeigen. Eine Strasse aus verspiegelten Tischnummern, beginnend mit der Unsrigen. Elf, zwölf, dreizehn, eins, zwei, drei. Zusammen laufen wir die ganze Strecke ab, von Anfang bis Ende, von Ende bis Anfang. Du immer ein paar Zentimeter vor mir, meine Hand fest im Griff. Ich spüre, wie stolz du bist. Ein Kunstwerk der anderen Art. Auf mein Lob, wie toll du das gemacht habest, reagierst du nicht. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich. «Wie bitte. Wiebitte? Wie bitte!» Natürlich weiss ich, dass du es nicht böse meinst. Jemanden zu verletzen, wäre das Letzte, was du wollen würdest. So bist du nicht. Und trotzdem trifft es mich immer wieder, wenn meine Liebe, meine Zuneigung, mein Unterstützungswille einfach an dir abzuprallen scheinen. Ich sei dir nicht egal, meinen zwar die Ärzte, ich solle es nicht zu persönlich nehmen, aber das ist leichter gesagt als getan. Will nicht jeder wenigstens ab und zu die Bestätigung haben, dass man geschätzt wird? Dass jemand, der einem so viel bedeutet, zumindest annähernd das Gleiche empfindet, wie man selbst? Ich wünschte, du würdest mir nur ein einziges Mal zeigen, wie viel ich dir bedeute. Ein Küsschen zum Beispiel oder eine Umarmung wäre genug, ja sogar ein einfaches In-die-Augen-schauen, möglicherweise verbunden mit einem Lächeln, würde reichen. Aber ich weiss, dass du das niemals tun wirst, dass du das niemals tun können wirst. Das sei normal bei Kindern wie dir. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich.
«Wie bitte? Wie bitte! Wie bitte.» Wir sitzen im Wagen. Du auf der Rückbank, ich vorne am Steuer. In deinen Händen hältst du wieder die Tischnummer 11 und starrst sie an, als ob sich dir darin die Lösungen auf die grossen Fragen der Menschheit offenbaren würden. Ich habe nicht bemerkt, wie du es eingesteckt hast, doch es ist mittlerweile bereits zu spät, um umzukehren und das Plättchen zurückzubringen. Du hättest es ganz abgesehen davon wahrscheinlich auch nicht hergegeben. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich «Wie bitte? Wie bitte. Wie bitte!» Alles, was in diesem Moment um dich herum passiert, ist für dich belanglos. Nur dieses kleine verspiegelte Plättchen mit den dicken, schwarzen Lettern ist noch von Bedeutung. Eine ganze Welt, ein ganzes Leben konzentriert auf 10x6 Zentimeter. Ich liebe dich kleiner Wolkentänzer, ich liebe dich.

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Wie bitte
Short StoryEine Mutter sitzt im Restaurant und beobachtet ihr autistisches Kind. In Form eines inneren Monologs berichtet sie darüber, was in diesem Moment gerade geschieht und denkt über vergangene Erlebnisse nach, die mit dem Autismus ihres Kindes im Zusamme...