I.

18 1 2
                                    

Seit Stunden ratterte die Kutsche über den unebenen Waldweg. Leonhard starrte nach draußen und wippte gleichzeitig mit dem Fuß auf und ab. Der junge Mann beobachtete, wie die Landschaft an ihnen vorbei zog.

Rosarote Wolken überzogen den Himmel und verdeckten nach und nach immer mehr die Sonne. Alles, was sie mit ihren Strahlen berührte, schien in goldenes Licht getaucht zu sein und fast fühlte er sich wie in einem seiner Bücher, wenn die Helden nach einer gewonnenen Schlacht in den Sonnenuntergang ritten.

Nur, dass er noch keine Schlacht bestritten hatte und auch nicht vorhatte, es zu tun.

Vor ihnen tauchte ein Wald auf, dessen Bäume so hoch hinauf ragten, dass sie das letzte Tageslicht davon abhielten, sich ihren Weg durch das dichte Geäst zu bahnen.

Leonhard hatte schon unzählige Geschichten von Menschen gehört, die im Wald wohnten und sich von den Städten fern hielten. Nachts sollten sie unbewachte Menschen und Kutschen angreifen, um ihnen all ihr Hab und Gut zu rauben, und die Opfer anschließend umzubringen.

Seine Mutter, die neben ihm saß, bemerkte seine Unruhe und griff nach seiner Hand. „Keine Sorge", sagte sie. Ihre Augen schimmerten dunkel im schwindendem Licht und als Leonhard sich ihr zuwandte, lächelte sie ihn aufmunternd an. Wie immer wusste sie, was gerade im seinen Kopf vorging. „Der Kutscher wird sich hier auskennen. Wenn es hier Gefahren gäbe, würde er uns nicht direkt dort hineinfahren. Außerdem haben wir ja noch die Leibwache", fügte sie hinzu. Leonhard nickte. Das klang einleuchtend.

Allerdings wurde er das mulmige Gefühl nicht los, das sich schleichend wie eine Raubkatze um seinen Brustkorb gelegte hatte. Er musste Aufpassen. Ohne die Hand seiner Mutter loszulassen, schaute er wieder nach draußen und suchte den Waldrand nach verräterischen Schatten ab. Doch erkennen konnte er nichts.

Alles war dunkel. Einzig die kleine Öllampe, die sich der Kutscher angezündet hatte, um sich den Weg, der vor ihnen lag, zu erleuchten, und die vorne bei ihm hing, warf unheimlich tanzende Schatten auf den Boden und die umliegenden Tannen.

Eigentlich wusste Leonhard, dass er sich auf den Kutscher und seine Leibwache verlassen konnte. Er kannte sie schon seit Jahren und die Beiden waren sehr vertrauenswürdige Kerle, dennoch wurde er das mulmige Gefühl einfach nicht los.

Mit der Zeit, in der die Umgebung unverändert an ihnen vorbei zog, wurde er müder. Seine Augenlider wurden schwerer, bis er große Mühe hatte, sie offen zu halten. Seine Mutter war schon länger zuvor eingeschlafen. Ihr langes, braun gelocktes Haar fiel ihr über die Schulter bis hinunter zum Bauch und ihr Gesicht war wunderschön. Sie gab ein friedliches Bild ab, wie sie so dalag, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Er konnte ihren Duft riechen, der so vertraut nach den alten Büchern roch, die er unzählige Male ehrfürchtig in der Hand gehalten hatte, dass er sich für ein paar kurz Augenblicke wieder Zuhause befand. Er hatte die Liebe zu Büchern von seiner Mutter geerbt, die zusammen mit ihm, als er noch ein kleines Kind war, in jeder freien Minute in die Bibliothek geflüchtet war. Als er sie einmal gefragt hatte, wieso sie immer in die Bibliothek flüchteten, hatte ihm seine Mutter durch die Haare gewuschelt und gesagt, dass es der einzige Ort wäre, an dem sie ihre Ruhe vor all ihren Verantwortungen und Verpflichtungen hatte.

Ohne dass er es bemerkt hatte, war Leonhard an der Seite seiner Mutter eingeschlafen. Das regelmäßige Ruckeln der Kutschte hatte ihn in den Schlaf gewiegt. Er träumte davon, wie sich die Beiden wieder in dem Raum voller Bücher befanden. Die Abendsonne tauchte alles in ein mystisches goldenes Licht. Leonhard war wieder der kleine Junge, der voller Staunen vor den riesigen Regalen stand und seinen Kopf in den Nacken legte, um bis ganz nach oben schauen zu können. Er hatte den Geruch von alten Büchern und Kerzenwachs in der Nase, hörte das umblättern von Seiten und das zwitschern der Vögel, die draußen ihre Lieder sangen.

Where love belongs to - a shortstoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt